Während und nach dem Sommer 2018 erregte Chemnitz bundesweit die Aufmerksamkeit der Medien. Aus einer tödlich endenden Auseinandersetzung auf dem Chemnitzer Stadtfest entfachten sich einerseits heftige Reaktionen, die vor allem von rechten Gruppen instrumentalisiert wurden und in rassistischen Übergriffen sowie später Mahnwachen am Tatort mündeten. Andererseits reagierten darauf Institutionen und Initiativen aus Kultur, Bildung, Verwaltung, Politik und Zivilgesellschaft mit einem Konzert unter dem Motto #wirsindmehr. Rund 65.000 BesucherInnen vor Ort setzten damals ein Zeichen gegen Rassismus und für Solidarität, während mehr als eine Mio. ZuschauerInnen im Live-Stream zuschauten.
Diese Ereignisse zeugen von der Umkämpftheit des urbanen Raums in Chemnitz, der Deutungen in öffentlichen Debatten und in medialen Repräsentationen. Außerdem verwischt gerade die ereignisbezogene Berichterstattung die historische Gewordenheit der Normalität rassistischer Äußerungen wie Handlungen auf der einen und die weiterhin andauernden alltäglichen Ausgrenzungen scheinbar nicht zugehöriger Menschen auf der anderen Seite. Um einen tiefergehenden Blick auf die Kontingenz der Beziehung zwischen der Stadt Chemnitz und Migration zu werfen, konzipierten wir als Lehrenden-Team der Professur Humangeographie mit dem Schwerpunkt Europäische Migrationsforschung drei Lehrveranstaltungen für das Sommersemester 2019:
– Eine Übung zu sozialempirischen Forschungsmethoden wird dafür genutzt, den umkämpften Räumen und Begrifflichkeiten nachzuspüren. Wir analysieren eigene Beobachtungen im öffentlichen Raum in Chemnitz sowie Gruppendiskussionen und Umfragedaten, um Raumdiskursen, Stereotypisierungen, Nutzungskonflikten, Annäherungs- und Aushandlungsprozessen innerhalb der Stadtgesellschaft auf die Spur zu kommen.
– Auf eine Spurensuche geht ein Lehrforschungsprojekt und fragt, ob es sich bei Chemnitz um (k)einen Ort (post-)kolonialen Erbes handelt. Im Zuge einer Welle von Dekolonisationsinitiativen in deutschen (Groß-)Städten möchten wir die vergangen und gegenwärtigen Auswirkungen von Kolonialismus und Rassismus vor Ort aufspüren.
– Im Seminar „Migration & Solidarität“ rücken solidarische Praktiken und Interventionen in den Blick. Die Studierenden konzipieren dabei sog. „Realexperimente“, d. h. sie erproben selbst Solidaritätspraktiken und reflektieren die eigene Involvierung in Aushandlungsprozesse.
In den forschungspraktisch angelegten Seminaren setzen sich die Studierenden in Projektgruppen mit den genannten Themen auseinander und führen eigene empirische, experimentelle sowie explorative Forschungen durch. Beispielsweise untersucht eine Gruppe mit #chemnitzsolidarisch die Wirkungsweise von solidarischen Bekundungen auf einer Social-Media-Plattform. Eine andere Gruppe beobachtet teilnehmend öffentliche Plätze der Stadt. Das Erkunden von Stadtteilen und Aufspüren kolonialer Relikte ist Gegenstand eines dritten Projektes.
Mit dem Blog „Umkämpfte Geographien Chemnitz“ stellen wir die Vielfalt dieser Projektarbeiten vor und geben Einblicke in die Forschungsprozesse. Redaktionell betreut wird der Blog durch das Lehrenden-Team der Professur sowie durch Julia Tuncel, Masterstudentin der Europäischen Integration.
Falls Du Interesse an Migration, Solidarität, Rassismus und Post-/Kolonialismus sowie den aktuellen Entwicklungen in Chemnitz haben solltest, kannst Du gern regelmäßig vorbeischauen.