Ein (post-) kolonialer Stadtrundgang durch Chemnitz

Reflexion Stadtrundgang

Eine Gruppe an Studierenden hat sich im Rahmen des Seminars „Spurensuche in Chemnitz: (K)Ein Ort (post-)kolonialen Erbes?“ die Koordinierung und Organisation eines (post-)kolonialen Stadtrundgangs durch Chemnitz vorgenommen, welcher am 16. September 2019 stattfand. Dabei wurden sechs verschiedene Stationen abgelaufen, die sich im Zentrum sowie in Altchemnitz befinden.

Station 1: Rathaus Chemnitz

Der Stadtrundgang beginnt am Rathaus in Chemnitz. Die Verfasserin des Redebeitrags legte bei ihrer Arbeit besonderen Wert auf Städtepartnerschaften. Eine dieser Partnerschaften verbindet Chemnitz mit der malischen Stadt Timbuktu. Bereits in dem 1968 abgeschlosse­nen Städtepartnerschaftsvertrag heißt es „Im Kampf um die Erhaltung des Friedens, gegen Imperialismus, Kolonialismus und Neokolonialismus leisten die DDR und die Republik Mali bedeutende Beiträge.“ Tatsächlich lag die Beziehung der beiden Städte jedoch lange Zeit auf Eis und beschränkte sich auf materielle Hilfeleistungen von Chemnitz für Timbuktu. Erst durch die Bewerbung der Stadt Chemnitz zur Kulturhauptstadt wurde das Verhältnis wie­der intensiviert. So wurde beispielsweise im Oktober 2018, anlässlich des 50 jährigen Jubi­läums der Städtepartnerschaft mit Timbuktu, eine Ausstellung mit dem Titel „Die Schätze Timbuktus“ im Chemnitzer TIETZ eröffnet. Es gab Podiumsdiskussionen und eine malische Delegation unterschrieb im goldenen Buch der Stadt. Abzuwarten bleibt, ob die Neubele­bung des Verhältnisses nur darauf zurückzuführen ist, dass Chemnitz sich davon einen Vor­teil für die Wahl zur Kulturhauptstadt verspricht oder ob die Wiederbelebung des Verhält­nisses wirklich die Chance einer dauerhaften, gleichberechtigten Kooperation bietet.

Chemnitzer Rathaus – Foto von Natalie Bleyl/ Instagram: @nidalee_photo –

Station 2: Johannisplatz

Die zweite Station führt auf die Spuren eines berühmten Sachsen – des Schriftstellers Karl May. Dieser wurde unter anderem durch seine Romane der „Orient-Reihe“ bekannt, Reiseabenteuer durch den sogenannten Orient sowie Nord- und Südeuropa. Bemerkenswert ist hierbei jedoch, dass May diese Gebiete erst in den Jahren 1899 bis 1900 bereiste, die „Orient-Reihe“ hingegen bereits 1880 erschien. Karl May steht damit stellvertretend für viele SchriftstellerInnen dieser Zeit, die durch ihre Literatur in EuropäerInnen den Wunsch nach Entdeckungs- und Abenteuerreisen weckten, aus denen sich viele koloniale Herrschaftsverhältnisse entwickelten. Denn durch diese Literatur wurde bei den EuropäerInnen eine Denkweise über diese Gebiete sowie ein Verständnis über deren BewohnerInnen als monolithische Subjekte geprägt. Auch heute ist Karl May durch die Karl-May-Festspiele in Rathen oder Bad Segeberg, sowie das Karl-May-Museum in Radeberg noch allgegenwärtig. Leider setzen sich bis heute weder die Festspiele, noch das Museum wirklich kritisch mit seinen Schriften auseinander. Das Gefängnis am Johannisplatz wurde als Station gewählt, weil Karl May hier aufgrund des Diebstahls einer Taschenuhr einsaß.

Station 3: Die Schokoladenbar

Die dritte Station des Stadtrundgangs ist die Schokoladenbar. Sie steht stellvertretend für den Handel mit Kolonialwaren. Als Kolonialwaren werden Lebens- und Genussmittel bezeichnet, die aus ehemaligen Kolonien kommen. Auch in Chemnitz lassen sich früh Spuren dieser kolonialen Güter finden. Erstmals dokumentiert sind Zucker, Zimt und Rosinen, die 1556 für ein Schützenfest eingekauft wurden. Zudem wurden bis 1820 keine Einfuhrzölle erhoben, wodurch viele Menschen diese Produkte auf Märkten oder in Kolonialwarenläden verkauften, um einen Nebenverdienst zu erzielen. Noch lukrativer wurde der Einkauf und Vertrieb dieser Waren für europäische Händler dadurch, dass sie die nachgefragte Warenmenge zusammengefasst bestellten, um die Preise drücken und die Verfügbarkeit der Produkte erhöhen zu können. In Chemnitz gründete sich zu diesem Zweck der “Verein Chemnitzer Kaufleute der Kolonialwaren-Branche” im Jahr 1892 mit dem Ziel, den Vertrieb der Waren in der Stadt zu organisieren. Später entstand zudem die Genossenschaft “Kolonialwaren-Handels-Verein für Kaufleute” (kurz Ka-Ha-Vau), der ebenfalls das Ziel hatte, durch größere Warenbestellungen signifikante Preisvorteile zu erzielen. Heute ist der Blick auf diese Produkte und deren Herkunft beziehungsweise Beschaffung kritischer. Gütesiegel wie „Fair-Trade“ haben es sich zur Aufgabe gemacht, zu garantieren, dass die Produkte zu fairen Preisen eingekauft und die Produzenten in Afrika oder Südamerika, um nur zwei Beispiele zu nennen, nicht ausgebeutet werden. Ein wichtiger Schritt in Richtung den weltweiten Handel fairer zu gestalten.

Station 4: Karl-Marx-Monument

Das Karl-Marx-Monument in Chemnitz ist mittlerweile ein Ort, der über die Grenzen der Bundesrepublik hinaus häufig mit den rechtsextremen Ausschreitungen im August 2018 verbunden wird. Bei Station vier liegt der Fokus jedoch nicht auf den rassistischen Denkstrukturen als koloniales Erbe, sondern der Rolle der Frau in rassistischen Diskursen.

Am 27. August 2018 hielten mehrere rechtsradikale Personen einen Banner mit den Worten „Wir sind BUNT bis das Blut spritzt“ hoch. In der Mitte des Banners sind Bilder verschiedener, schwer verletzter Frauen zu sehen, wodurch darauf angespielt wurde, dass deutsche Frauen, durch ‚Fremde‘ misshandelt werden. Die Informationen, die das Transparent vermittelt, sind schlichtweg falsch und wurden von einer Initiative gegen Internetmissbrauch (MimiKama) als Fake News enttarnt. Auf der Internetseite der Initiative findet sich ein Foto des Banners sowie zu jeder abgebildeten Person detailliert die Hintergründe unter Quellenangaben.

Das Banner basiert auf bestimmten Vorstellungen von Weiblichkeit, Männlichkeit und dem sogenannten Anderen. Zunächst gibt es den anderen Mann, der als zügellos und wild, als hypersexuell erdacht wird. Er stellt die Bedrohung dar – und zwar in erster Linie für die „weiße Frau“. Die Frau als scheinbar schwächstes Glied der gesellschaftlichen Kette wird als schutzbedürftiges Opfer inszeniert, die es vor der Gefahr durch den anderen Mann zu bewahren gilt. Der andere Mann wird in seiner Andersartigkeit manifestiert, der niemals mit imaginierten westlichen Grundwerten übereinstimmen könne. Über diese Abgrenzung erfährt die westliche Männlichkeit eine enorme Aufwertung, sie wird als zivilisiert und ehrenhaft erdacht. Er erscheint als Held, der vor der Bedrohung warnt und beschützt. Diese Vorstellung von „weißer Weiblich und Männlichkeit sowie vom übergriffigen Anderen ist keineswegs ein neues Phänomen, sondern eindeutig als koloniales Erbe einzuordnen.

Karl-Marx-Monument – Foto von Natalie Bleyl/ Instagram: @nidalee_photo –

Station 5: Alte Aktienspinnerei (Baumwolle)

An dieser Station wird die Baumwolle als koloniales Handelsgut im Kontext der Entwicklung der Stadt Chemnitz thematisiert. Die 1857 errichtete Aktienspinnerei steht in Chemnitz als Sinnbild der sächsischen Textilindustrie. Mit der Verarbeitung importierter Baumwolle hat sich Chemnitz als Zentrum sächsischer Textilindustrie etabliert.

Durch stärker werdende Abhängigkeiten zu Großbritannien und den USA als Exporteure von Baumwolle begann Deutschland selbst in ihren Kolonien den Baumwollanbau zu fördern. Durch den Anbau der Baumwolle in den eigenen Kolonien hat die baumwollverarbeitende Industrie als bedeutendster Wirtschaftszweig der Stadt Chemnitz profitiert, wobei jedoch der Bezug der Rohbaumwolle im Gegenzug ebenfalls zur Erhaltung der kolonialen Strukturen beitrug. Der Baumwollanbau in den Kolonien führte einerseits zu einem günstigeren Import der Baumwolle (im Vergleich zu Großbritannien und den USA) und andererseits dazu, dass insbesondere Chemnitz die Verarbeitung des Kolonialgutes sowie später den wettbewerbsfähigen Absatz der Textilprodukte möglich machte.

Beim Anbau der Baumwolle auf den Plantagen in dem sogenannten Deutsch-Ostafrika (umfasst heute in etwa die Gebiete Tansania ohne Sansibar, Burundi und Ruanda sowie ein kleines Gebiet im heutigen Mosambik) kam es zu vielen Todesfällen unter den ArbeiterInnen. Zwangsarbeit und Misshandlungen sowie Steuereintreibungen waren Alltag auf den Plantagen. Aufgrund der Fremdherrschaft der PlantagenarbeiterInnen kam es zu einer Rebellion, welche sich schlussendlich zu den Maji-Maji-Aufständen ausbreitete.

Heute befindet sich die neue Universitätsbibliothek der Technischen Universität Chemnitz in der ehemaligen Aktienspinnerei.

Alte Aktienspinnerei
– Foto von Julia Tuncel –

Station 6: Rassismus als immaterielles, koloniales Erbe und dessen Folgen und Auswirkungen auf die Stadt Chemnitz

Mit der letzten Station möchten wir dem Umstand Rechnung tragen, dass wir den Kolonialismus nicht als abgeschlossenen Prozess, sondern als in gegenwärtigen post-kolonialen Verhältnissen weiterexistierend verstehen. Das koloniale Erbe der wissenschaftlichen Rassenlehre ist eng verknüpft mit den völkisch-nationalistischen Rassismen in Deutschland und Sachsen.

Wie bereits erwähnt, kam es nach einer tödlichen Auseinandersetzung Ende August 2018 am Rande des Chemnitzer Stadtfestes zu rassistisch motivierten Ausschreitungen. Im Zuge dessen wurde am Abend des 27. August 2018 das jüdische Restaurant „Shalom“ von Neonazis mit faustgroßen Steinen, Flaschen und anderen Gegenständen angegriffen sowie der Inhaber verletzt. Die nächsten Angriffe ereigneten sich am 22. September auf das persische Restaurant „Schmetterling“, bei dem Unbekannte in der Nacht die Scheiben einwarfen und am 7. Oktober auf das persische Restaurant „Safran“. Bereits im Januar 2018 sprühten drei junge Erwachsene nationalsozialistische Symbole an eine kurdische Bäckerei im Stadtteil Sonnenberg.

Das ehemalige türkische Restaurant „Mangal“ – Foto von Julia Tuncel –

Schließlich brannte in der Nacht des 18. Oktober 2018 das türkische Restaurant „Mangal“. Anwohner waren durch einen lauten Knall aufgeschreckt worden und sahen nach Ausbruch des Brandes vor dem Lokal drei Personen. Zur Tatzeit mussten 17 AnwohnerInnen aus dem Mehrfamilienhaus evakuiert werden. Glücklicherweise konnte die Feuerwehr das Feuer schnell unter Kontrolle bringen und niemand wurde verletzt. Der Staatsschutz nahm daraufhin die Ermittlungen auf. Der Wirt aus Frankenberg hat Chemnitz verlassen und wird nicht wiedereröffnen.

Globale Migrationsprozesse und soziale Ungleichheit sind ohne das Wissen um koloniale Expansion und Unterwerfung, ökonomische und ökologische Ausbeutung sowie unmittelbare und symbolische Gewalt nicht zu verstehen. Menschen wandern nach Europa, um vor Krieg, Armut oder Verfolgung zu fliehen – deren Ursachen häufig mit der kolonialen Geschichte verknüpft sind – oder ihre soziale Situation zu verbessern, stoßen hier jedoch zum Teil auf Hass und Diskriminierung.

Es gilt, sich noch kritischer mit den rassistischen Strukturen innerhalb der Bevölkerung auseinanderzusetzen. Nur so kann eine Besserung eintreten und ein toleranter und respektvoller Umgang miteinander gewährleistet werden.


AutorInnen: Jonathan Hindemith, Annelie Neumann, Anastasia Novikova, Stephan Schurig

Redaktion: Julia Tuncel