Der Sonnenberg – Brennpunkt oder Lieblingsort?

Eine Gegenüberstellung von Außen- und Innenwahrnehmung eines diversen Stadtviertels

„In der Zietenstraße, der Zietenstreet, unserer Lieblingsstraße“ beginnt unser Interview mit Ahmed, einem Künstler vom Sonnenberg. Symbolisch steht dieser Satz für das Lebensgefühl der jungen alternativen Szene vom Sonnenberg, brechend mit dem zähen Narrativ über das Problemviertel, welches konstant durch die Echokammer negativer Lokalpresseberichte und damit durch ganz Chemnitz und darüber hinaus hallt.

Eckhaus in Blau mit Eingangstür und Späti-Schild

Späti in der Zietenstraße

Im Google-Newsfeed über das Stadtviertel überwiegen Polizeimeldungen; Berichte über Sachbeschädigung, Betrug, Körperverletzung [1] . Im Hinterkopf bedrücken das Wissen über den Versuch der Etablierung einer „national befreiten Zone“ rund um den Lessingplatz durch Neonazis im Jahr 2016, die stadtweiten Übergriffe auf migrantisch gelesene Personen 2018, andauernde polizeiliche Repressionen und Racial Profiling [2] in den sogenannten „gefährlichen Orten“ Chemnitz‘ [3]. In scheinbarem Widerspruch dazu stehen die Erzählungen der Interviewten: „Genau, am Sonnenberg sind viele Junge, Offene, Alternative – [ein] richtig hippie-mäßige[s] Viertel“. Im Folgenden sollen die diametralen Narrative der Innen- und Außenwirkung des Viertels näher beleuchtet werden.

Methode

Für die Untersuchung der Frage, wie insbesondere Menschen mit Migrationsgeschichte auf dem Sonnenberg ihr Viertel wahrnehmen, wurden im Dezember 2022 bzw. Januar 2023 Partizipative Walking-Interviews mit drei Personen durchgeführt, die ihre Sichtweise als Bewohner*in, Kulturschaffender sowie als Institution geschildert haben. Die Route wurde jeweils von der interviewten Person bestimmt, sodass sowohl alltägliche als auch symbolische Orte angesteuert wurden und somit Wissen über den geographischen Raum sowie die persönlichen Einstellungen dazu erhalten werden konnten. Der Vorteil in dieser Art der Erhebung, nach ethnographischem Vorbild und als Mischung aus Beobachtung und narrativem Interview, liegt im Zugang zu Erfahrungen und Erinnerungen, die durch den Besuch der Orte ausgelöst werden, sowie in der Wahrnehmung des sensorisch-emotionalen Bezugs zum Raum[4], [5] . Durch das gemeinsame Gehen entsteht eine Praxis der Raumproduktion (nach Lefebvre[6]), um in direkter und unmittelbarer Beziehung bestimmte raum-zeitliche Kontexte zu thematisieren und dadurch Räume als soziale Wirklichkeit zu generieren, sowie Räume als Ursache sozialer Praktiken zu erschließen [7]. So konnte während eines Interviews beispielsweise auch die Interaktion mit zufällig getroffenen Bekannten beobachtet werden – eine Begegnung, welche den vom Interviewten benannte Kiezcharakter unterstrich. Zudem wird eine natürlichere Atmosphäre erzeugt und Machtgefälle können prospektiv eingedämmt werden. Bei den Interviewten handelte es sich um eine Schülerin, einen Künstler und eine Angestellte bei einer Chemnitzer Plattform zur Vermittlung und Informationsbereitstellung für Bedürftige. Der Fokus lag im Aufzeigen einer migrantischen Perspektive.

Positionalität der Forschenden

Blick in einen Park mit gepflasterter Straße

Lessingplatz auf dem Sonnenberg

Da der gesamte Forschungsprozess, genauer gesagt jegliche Genese von Wissen, durch Macht geprägt ist[8], ist es von besonderer Relevanz, jeden Forschungsschritt kritisch zu reflektieren. Retrospektiv betrachtet sind wir schon bei der Fragestellung von der kühnen Prämisse ausgegangen, Menschen mit Migrationsgeschichte fühlten sich im Stadtviertel anders als solche ohne. Zudem sind wir, selbst geprägt von der negativen medialen Darstellung, wenn auch gleichzeitig als Anwohner*innen sowie Mitgestalter*innen und Konsument*innen der Subkultur des Sonnenbergs bemüht um die Etablierung eines alternativen und relativierenden Narratives, mit einer bestimmten Erwartungshaltung an die Forschung getreten: Bereit dafür, zugleich Geschichten von Diskriminierung, Rassismus und Segregation, als auch Empowerment und Selbstentfaltung zu hören. Überraschenderweise ist ersteres nicht eingetreten, und vielmehr noch: Die Befragten wirken zeitweise überrascht bis irritiert, unsere (teils suggestiven) Fragen zu bisherigen Veränderungen und aktueller Zufriedenheit, bis hin zu zukünftigen Wünschen bezüglich des Stadtteils zu hören – schließlich handele es sich einfach um ihr Zuhause. Auch in Methodenwahl und Formulierung der Fragen fand also ein Othering (nach María do Mar Castro Varela (2010)[9]: Eine beständige (neu) Erzeugung der*des Anderen und Festzurren auf der Position der Differenz (mit Referenz auf Said, 1978) [10] und eine Essenzialisierung der Teilnehmenden (auf ihre Herkunft) statt: Sie selbst sehen sich vielmehr in ihren Rollen und Identitäten als Schülerin und Schwester, Künstler und Freund, Projektmitarbeiterin und Vernetzerin – als als Mensch mit Migrationsgeschichte (oder Zugang dazu).

Ergebnisse

Am eindrücklichsten war wohl das Interview mit Ahmed, einer enthusiastischen Person, die auf dem Sonnenberg ihr soziales Umfeld, Hochkultur, Inspiration, interkulturellen Austausch, sportliche Betätigung, kreatives Ausleben in Kunst und Theater findet. Insbesondere die Zietenstraße mit späti, z13, Zietenaugust, Lokomov, KOMPLEX und Kaffeesatz wird als „Kunstviertel“ akzentuiert. Zum anderen wird vom Befragten aber auch eine Verbindung zur arabischen community (im Bereich Hainstraße / Fürstenstraße) aufrechterhalten.

Auch die jugendliche Schülerin wirkt zufrieden mit ihrer Wohnlage und dem Umfeld; zum Teil zwar irritiert von den reflexiven Fragen, sieht sie sich aber selbst noch länger wohnhaft auf dem Sonnenberg und äußert auch keine speziellen Wünsche an das Viertel (oder war überfordert mit der Frage) – das omnipräsente Narrativ des „Problemviertels mit Nazi-Kiez“ scheint in ihrem Alltag keine Rolle zu spielen.

Die Vertreterin der institutionellen Perspektive wünscht sich mehr positive Berichterstattung über den Sonnenberg, geradezu ein „gute Nachrichten-Blatt“. Sie bedauert, dass schöne Ereignisse und gelungene Aktivitäten, unter anderem organisiert von der sozialen Einrichtung, bei welcher sie angestellt ist, nicht mehr Publizität finden und betont den Zusammenhang zwischen gedruckter Presse und öffentlicher Meinung. Zwar blieben sich die verschiedenen sozialen Gruppen im Viertel zum Teil fremd, wodurch Ressentiments geschürt würden, doch einige Veranstaltungen (z.B. Flohmarkt) und Orte (z.B. Lessingplatz) trügen zum Austausch bei. Allgemein betont sie, dass ein Stück mehr „Sonnenberg-Selbstbewusstsein“ und Ausstrahlung des vorhandenen Potentials dem Viertel guttäte.

 

Fazit                                                                                                    

Die Interviews haben unsere Erwartungshaltung herausgefordert und uns zur kritischen Reflexion genötigt – die Befragten zeigten eine neutrale bis leidenschaftlich-positive Einstellung zum Viertel, es überwiegen funktionaler Pragmatismus und liebevolle Zuversicht anstatt negativer Erfahrungsberichte. Während in der Rezeption durch Presse und Bürger*innen anderer Stadtteile die scheinbaren Problemlagen des Sonnenbergs überwiegen, wird sich bei den Befragten neben dem wohlwollenden, aber vorsichtigen Bekenntnis zum Kollektiv, als Bewohner*innen eines diversen Viertels, eher um die verzerrte Außenwirkung gesorgt. Alle drei Interviewten schauen mit Neugierde auf die Zukunft ihres Viertels – ihr Zuhause. Oder, um wieder mit Ahmed zu schließen, „Und dann dachte ich: Warum ziehe ich nicht direkt zum Sonnenberg? Das ist für mich auch das Beste.“

Literatur- und Quellennachweise

[1] https://news.google.com/search?q=chemnitz%20sonnenberg&hl=de&gl=DE&ceid=DE%3Ade; aufgerufen am 10.02.2023

[2] raa-sachsen.de/support/pressemeldungen/racial-profiling-verwaltungsgericht-dresden-erklaert-handeln-der-bundespolizei-fuer-rechtswidrig-5918; aufgerufen am 10.02.2023

[3]https://edas.landtag.sachsen.de/viewer.aspx?dok_nr=13749&dok_art=Drs&leg_per=6&pos_dok=1&dok_id= undefined; aufgerufen am 10.02.2023

[4] Degen, Monica und Gillian Rose. „The Sensory Experiencing of Urban Design: The Role of Walking and Perceptual Memory“. Urban Studies 49, Nr. 15 (2012): 3271–87. https://doi.org/10.1177/0042098012440463.

[5] Thibaud, Jean-Paul. „Die sinnliche Umwelt von Städten. Zum Verständnis urbaner Atmosphären“. HAL (Le Centre pour la Communication Scientifique Directe), 2003.

[6] Lefebvre, Henri. The Production of Space. 1. Wiley-Blackwell, 1991.

[7] Kühl, Jana. „Walking Interviews als Methode zur Erhebung alltäglicher Raumproduktionen“. Europa Regional, Nr. 2 (2016): 35–48. (Beziehend auf: Belina, Bernd und Boris Michel. Raumproduktionen: Beiträge der „Radical Geography“. Eine Zwischenbilanz (Raumproduktionen: Theorie und gesellschaftliche Praxis). 4. Westfälisches Dampfboot, 2010; Belina, Bernd. Raum. Westfälisches Dampfboot, 2013)

[8] Rose, Gillian. „Situating knowledges: positionality, reflexivities and other tactics“. Progress in Human Geography 21, Nr. 3 (1997): 305–20. https://doi.org/10.1191/030913297673302122.

[9] Varela, María Do Mar Castro. „Un-Sinn: Postkoloniale Theorie und Diversity“. VS Verlag für Sozialwissenschaften eBooks, 2010, 249–62. https://doi.org/10.1007/978-3-531-92233-1_16.

[10] Said, Edward (1978): Orientalism. New York: Vintage.

Blaues Eckhaus mit Spätischild

Späti in der Zietenstraße

Text und Fotos: Lisa Kruppa

Der Text entstand im Rahmen eines Lehrforschungsprojektes im Seminar „Angewandte Geographische Migrationsforschung“ (Leitung Hanne Schneider) im Wintersemester 2022/23