Beispiel Pippi Langstrumpf
Klassiker wie Pippi Langstrumpf oder Jim Knopf sind fast in jedem Bücherregal zu finden. Schon im Kindergarten werden Bücher vorgelesen oder Filme vorgespielt. Es gibt Theateraufführungen oder Musicals, welche zahlreiche Besucher_innen anlocken. Jedoch existiert bereits seit einigen Jahren eine hitzige Diskussion über das Werk Astrid Lindgrens oder anderer Kinderbuchautor_innen. Weil in diesen Büchern wiederholt fremdenfeindliche Begriffe auftauchen, wurden sie als rassistisch bezeichnet und in einer schwedischen Kita bereits verboten. In der von 1945 an veröffentlichten Romantrilogie Pippi Langstrumpf ist beispielsweise folgende deutsche Übersetzung zu finden: „Bedenkt mal — [N-Wort]prinzessin!“1 sagte Pippi träumerisch. „Es gibt nicht viele Kinder, die das werden. Und fein werde ich sein! In allen Ohren werde ich Ringe haben und in der Nase einen noch größeren Ring.“
Die Kritik an diesen Äußerungen sowie die Diskussionen um das Werk Astrid Lindgrens veranlasste den Oetinger Verlag, eine Fußnote zu der Bezeichnung des N-Wortes einzufügen: „[I]n diesem und folgenden Kapiteln wird der Ausdruck „[N-Wort]“ verwendet. Als Astrid Lindgren Pippi Langstrumpf geschrieben hat, war das noch üblich. Heute würde man „Schwarze“ sagen [Pippi Langstrumpf geht an Bord, S. 10].“ 2009 erschien eine Neubearbeitung der Bücher vom Verlag. Auf der Webseite des Friedrich Oetinger Verlags wird erklärt, dass in allen Neuauflagen und Neuaufnahmen ab 2009 derartige Begriffe nicht mehr zu finden seien, da diese nicht dem heutigen Sprachgebrauch entsprechen und missverstanden werden können. Aus diesem Grund wurden die Begriffe entweder gestrichen oder durch andere ersetzt. So sei Pippi Langstrumpfs Papa nun beispielsweise der „Südseekönig“. In den verschiedenen Übersetzungen des Originals wird die Erwähnung der Hautfarbe der Inselbewohner_innen des Taka-Tuka-Landes jedoch keineswegs vermieden. So spricht Pippi in einer englischen Übersetzung von „little black cannibal children“ (Pippi Goes Aboard, Astrid Lindgren, S. 121) oder darüber, dass „their teeth flashed white in their black faces when they laughed“ (Pippi in the South Seas, Astrid Lindgren S. 66).
Im Rahmen der Diskussionen um Astrid Lindgren wurde einerseits deutlich, dass ihr keine rassistischen Motive vorgeworfen werden können. Sie vertrat eine humanistische Grundeinstellung, gab sich tolerant und war gewissermaßen ein “Kind ihrer Zeit“. Andererseits wird jedoch klar, dass die Erzählmuster tief in dem kolonialen, rassistischen und ethnozentrischen Denken der Zeit verwurzelt sind und die diskriminierende Sprache und Handlungen zwar eigentlich nicht das Thema der Pippi Langstrumpfbücher sind, jedoch unbedacht mitgeliefert werden. Die Problematik liegt darin, dass die Bücher ursprünglich für Kinder im Alter von 8–9 Jahren geschrieben wurden. Heute werden die Geschichten jedoch 5-6-Jährigen vorgetragen, welche noch nicht genug Allgemein- bzw. Hintergrundwissen besitzen, um sich ernsthaft mit dieser Problematik auseinanderzusetzen.
Der Pädagogikprofessor Jörg Kilian nimmt die Oetinger-Fußnote als Ausgangspunkt für eine stärkere Beschäftigung mit diskriminierender Sprache. Im Schulunterricht von Klasse 7-9 sollen die Schüler_innen mittels historischen und gegenwartsbezogenen Wörterbüchern der Deutschen Sprache die Bedeutungsentwicklung des N-Wortes erkunden und mithilfe von digitalen Sprachkorpora den aktuellen Sprachgebrauch in verschiedenen Varietäten des Deutschen erforschen. Weiterhin sollen sie auch nach alternativen Übersetzungsmöglichkeiten suchen.2 So kann bereits im Jugendalter ein politisch korrekter Sprachgebrauch etabliert werden.
Unreflektierte Rassismen kommen häufig in der Sprache Erwachsener vor. Das macht es umso bedeutender, sich mit der Kinder- und Jugendliteratur auseinanderzusetzen.
Beispiel Jim Knopf
Die Diskussion um rassistische Äußerungen in der Literatur betrifft auch den Klassiker Jim Knopf und Lukas, den Lokomotivführer. 2015 entstand hier die Debatte im Stuttgarter Thienemann Verlag, ob das N-Wort in Jim Knopf bleiben darf. Damals äußerte sich der Verleger Klaus Willberg mit den Worten: „Als die Bewohner Lummerlands rufen: ,Ein schwarzes Baby!’ bemerkt Herr Ärmel: ,Das dürfte vermutlich ein kleiner [N-Wort] sein.’ Würde man das Wort [N-Wort] hier ersetzen, wäre der ganze Witz weg. Es gibt auch bei Michael Ende ideelle Erben, die darauf achten, dass seine Werke nicht verfälscht werden. Ganz abgesehen davon, dass wir daran auch gar kein Interesse haben.“3 Damit bekräftigt er Diejenigen, die eine Änderung der originalen Wortwahl als kritisch ansehen. Es sei umstritten, inwiefern mit Werken aus einer Zeit, in denen Begriffe wie das N-Wort anders konnotiert waren, umzugehen sei.
Bei genauerer Betrachtung der Geschichte um Jim Knopf fällt auf, dass die Frage nach Rassismus hier jedoch eine ganz andere ist. Ursprünglich war das Buch nie als Kinderbuch gedacht. Das Ende des Buches beschreibe die Katastrophe der eigenen Kindheit des Autors Michael Ende, welcher 1948 seine Schulausbildung abschloss und die Erziehungspolitik im Dritten Reich beschreibt. Jim Knopf schrieb er Mitte der 50er-Jahre und thematisiert darin die Evolutionstheorie als ideologisches Leitbild des Nationalsozialismus und den Sozialdarwinismus als Leitideologie einer rassistischen Weltanschauung. Er verfasst eine Gegengeschichte zur nationalsozialistischen Vereinnahmung der Evolutionstheorie.4 In Jim Knopf wird dies durch zahlreiche Analogien deutlich. So symbolisiert die Schulklasse auf ihrer Reise in der Drachenstadt beispielsweise die Manipulation und Indoktrination im Schulunterricht des Dritten Reichs. Frau Mahlzahn tritt hier mit einem militärischen Kommandoton auf, was zeigen soll, dass die Kinder eine biologistische Weltanschauung eingepaukt bekamen. Auch als der Halbdrache Nepomuk aus der Drachenstadt verwiesen wird, weil er kein reinrassiger Drache ist, stellt eine Analogie zur damaligen Situation in Deutschland dar. Das Bühnenbild für diese Szene ist ein Zug, der in einen rauchenden Ofen einfährt. Eine weitere Analogie stellt den Meeresboden dar, von dem das versunkene Königreich Jimballa aufsteigt. Dies ist ein Gegenentwurf zu den Atlantis-Mythen der Nazis: „Wenn einmal unser Atlantis wieder aus dem Meere aufsteigt, dann holen wir uns von dort die blonden, stahlharten Menschen mit dem reinen Blut und schaffen mit ihnen das Herrenvolk, das endgültig die ganze Erde beherrschen wird.“ So klingt es in einem Kinderbuch aus dem Jahr 1935. Michael Ende lässt sich Jim Knopf als Nachfahren der letzten aus dem königlichen Geschlecht stammenden Personen von Jimballa wiederfinden. In der Geschichte erklärt es Jim Knopf als Wohnort für alle. Hier dreht Michael Ende den Nazi-Mythos um.
Auch im Kontext des Kolonialismus können einzelne Bestandteile des Buches gesehen werden. So spiegelt das Lummerland beispielsweise das koloniale England im 19. Jhd. als eine Insel mit einer Eisenbahn, die für die industrielle Revolution steht, wider. Auch der König und die Bewohner_innen von Lummerland stellen als König von England und Vertreter_innen der englischen Gesellschaft eine Analogie dar. Das Hauptaugenmerk der Geschichte liegt auf Jim Knopf, der den historischen Jemmy Button verkörpert.5 Jemmy Button wurde auf dem Boot von Charles Darwin nach seiner Reise von den Galapagos-Inseln/ Feuerland zurück nach England gebracht. Sein Name beinhaltete seinen Kaufpreis. Im Tausch gegen einen Perlmuttknopf erkauften sich die Engländer_innen das Recht von den Einwohner_innen, die Gegend kartographieren zu dürfen. Darwin selbst beschrieb Jemmy Button als „Liebling aller, mit freundlichem Gemüt“. Im Erwachsenenalter wird er jedoch zum Mörder. Als Michael Ende von seinen Erlebnissen erfährt, gibt er ihm eine neue Geschichte. Michael Ende verwendet in Jim Knopf bewusst Termini wie das N-Wort oder Rasse, um so eine Verbindung zum historischen Kontext herzustellen.
Anhand des Beispiels von Michael Ende wird deutlich, dass in der Bewertung von rassistischen Formulierungen in der Literatur häufig der geschichtliche und zeitliche Kontext der Entstehung betrachtet werden muss. Nicht immer kann anhand einzelner Begriffe auf einen rassistischen Hintergrund geschlussfolgert werden.
Autorin: Annemarie Kelpe
Redaktion: Julia Tuncel
1 Um rassistische Bezeichnungen in diesem Artikel nicht zu wiederholen, wird im Folgenden der Begriff ”N-Wort” genutzt.
2 Vgl. Anatol Stefanowitsch: Pippi, geh von Bord, 11. August 2011, URL: http://www.sprachlog.de/2011/08/11/pippi-geh-von-bord/, (Abgerufen am: 15.09.2019).
3 Andrea Kachelrieß: Nostalgie, Kultur oder doch Rassismus?, 11. April 2019, URL: https://www.stuttgarter- nachrichten.de/inhalt.vom-sarotti-mohr-zum-kleinen-N-Wort]-jim-knopf-nostalgie-kultur-oder-doch-rassismus.92a1d51b-84a7-4222-99e9-e91415e822b8.html?fbclid=IwAR0ruZSf_PxrL1M85WJ18ad4m-_okVxrtiUKpj6LUrfX6o_zaQSG60skviQ, (Abgerufen am: 25.09.2019).
4 Vgl.: Julia Voss: Jim Knopf rettet die Evolutionstheorie, 16. Dezember 2008, URL: https://www.faz.net/aktuell/wissen/darwin/wirkung/darwin-jahr-2009-jim-knopf-rettet-die-evolutionstheorie-1741253-p5.html?printPagedArticle=true#void, (Abgerufen am: 15.09.2019).
5 Vgl.: Martin Wittmann: Nazis raus aus Lummerland, August 2010, https://www.focus.de/kultur/buecher/jim-knopfwird-50-nazis-raus-aus-lummerland_aid_539421.html, (Abgerufen am 04.10.2019).