Ballismus

Ökonomische Krise und Gegenbewegungen im Fußball

Tariq Mian, März 2021

RB Leipzig gehört zu den umstrittensten, um nicht zu sagen, meist gehassten Fußballclubs in Deutschland. Kein anderer Verein steht mehr als Symbol für die Kommerzialisierung des Fußballs. Der Hass trifft nicht nur die Führungsebene des Vereins, auch die Fans sind Spott, Wut und tätlichen Angriffen ausgesetzt. Ein Teil dieser Fans hält zwar treu zu Team und Verein, widersetzt sich aber aktiv der Idee von Fußball als reinem Kommerz. Ein Widerspruch?

Der Begriff ökonomische Krise wird häufig mit der letzten Weltwirtschaftskrise, welche 2007 begann, assoziiert. Diese wurde von weiten Teilen der Politik und den Wirtschaftswissenschaften als Konjunkturkrise bezeichnet, deren Probleme schnell wieder behoben waren. Demgegenüber steht die Auffassung einer kritischen Sozialwissenschaft, der zufolge es sich um eine Strukturkrise des Kapitalismus handelt.1 Strukturkrise bedeutet, dass es sich nicht um einen Fehler im System handelt, welcher durch kleinere Nachjustierungen (z.B. durch stärkere Regulierung des Finanzsektors) zu beheben ist. Strukturkrise bedeutet, dass der Kapitalismus grundlegend Widersprüche produziert, welche zu Krisen führen.2 Aus der Annahme einer Strukturkrise folgt, dass diese innerhalb des Kapitalismus nicht behoben werden kann. Ebenso wenig sind ihre Folgen nach kurzer Zeit behoben, wie es die Vertreter:innen der Theorie einer Konjunkturkrise behaupten.

Das Beispiel der Ultras bei RB Leipzig liefert zwei interessante Aspekte, welche in diesem Zusammenhang häufig übersehen werden: Die Verwendung des Begriffs ökonomische Krise im Zusammenhang mit der Kommerzialisierung von Fußball – für die RB Leipzig symbolisch ganz besonders steht – so meint der Begriff hier offensichtlich etwas völlig anderes, als wenn von Konjunkturkrise gesprochen wird.

Wird die Kommerzialisierung – also verstärkte Ökonomisierung – von Sport und Kultur als Krise wahrgenommen, so bedeutet dies, Stellung zu beziehen gegen die Logik des gegenwärtigen Kapitalismus.

Aus Sicht einer neoliberalen Agenda ist RB Leipzig ein gelungenes Projekt. Sport wird völlig in die Logik von Verwertung und Marktgesetzen integriert. Dies zeigt, wie unterschiedlich der Krisenbegriff verwendet werden kann, wenn die Tendenz zur völligen Unterwerfung von Kultur und Sport unter die Gesetze des Kapitalismus als Teil einer ökonomischen Krise verstanden wird.

Der zweite interessante Aspekt liegt in der Betrachtung von Ultras. Diese sind keine soziale Bewegung im engeren Sinne, vor allem keine dezidiert kapitalismuskritische. Der Blick fällt so auf eine sehr bedeutende Subkultur und deren Umgang mit der Ökonomisierung dessen, was für ihre Identität zentral ist: Ihr Fußballverein.

Ballismus – Ultras gegen die Kommerzialisierung des Fußballs bei RB Leipzig

Wenn Ultras und RB Leipzig etwas verbindet, dann der Umstand, dass beide polarisieren. Ultras sehen sich als die treuesten Unterstützer:innen ihrer jeweiligen Vereine. Sie stehen für Fußball als kollektives, emotionales Erlebnis. Für eine Fußballkultur, in der Fans ihre Vereine aktiv mitgestalten und Stimmrecht haben, in der die, die Fußball nur konsumieren wollen, verpönt sind. Kritisiert werden sie dagegen immer wieder für eine mangelnde Abgrenzung zu Gewalt, für das Zünden von Pyrotechnik und Randale.

RB Leipzig kann als der Gegenentwurf zu der Art von Fußball gesehen werden, die Ultras propagieren. Fußball ist hier ein Vehikel, um die Marke Red Bull zu vermarkten. Dementsprechend schlägt keinem anderen Verein in der deutschen Bundesliga mehr Ablehnung und offener Hass entgegen. Wenn sich Ultragruppen, die untereinander häufig Rivalitäten, bis hin zu gewalttätigen Feindschaften führen, in einer Sache einig sind, dann in der Ablehnung von RB Leipzig. Diese Ablehnung trifft auch die Fans des erfolgreichsten Leipziger Fußballvereins der Gegenwart. Auch in Leipzig, wo es mit der BSG Chemie und Lok Leipzig zwei weitere Vereine gibt, die eine treue Anhänger:innenschaft haben, polarisiert RB und wird von den meisten Fans der anderen Vereine abgelehnt. Trotz dessen, wofür RB Leipzig steht, entwickelte sich auch dort in den letzten Jahren eine aktive Fanszene mit mehreren Ultragruppen.

Ultras – Fans als aktive Vereinsmitglieder

Die Ultrabewegung gehört zu den bedeutendsten Subkulturen der Gegenwart. Sie entstand in den 1960er Jahren in Italien,  zu einer Zeit, in der die Gesellschaft als stark politisiert beschrieben werden kann. Ultras verstehen sich als aktive Fans, welche die Kommerzialisierung von Fußball ablehnen. Der do-it-yourself Gedanke spielt bei ihnen eine große Rolle. Fanutensilien werden selbst hergestellt, es werden eigenständig aufwendige Choreografien durchgeführt. Es besteht eine starke kollektive Identität als Gruppe, aber auch eine starke Identifizierung mit dem Verein als Ganzem. Fans sollen mitgestalten und mitbestimmen.

RB Leipzig und seine Rolle im deutschen Fußball

Diese Art der Fankultur hat dabei in Deutschland auch eine strukturelle Basis, die sogenannte 50+1 Regel. Diese besagt, dass Vereine, wenn sie als Kapitalgesellschaft auftreten, mit 50 Prozent plus einer Stimme die Mehrheit gegenüber den Investor:innen haben müssen. Die Lenkung der Vereine bleibt somit bei den Vereinsmitgliedern. Üblicherweise haben Bundesliga Clubs viele tausend Mitglieder, welche mit stimmberechtigt sind. Bei RB gibt es 17, Red Bull nahestehende, stimmberechtigte Mitglieder. Zudem hält Red Bull 99 Prozent des Kapitals von RB.

Eine aktive Mitbestimmung durch Fans ist bei Red Bull somit strukturell nicht möglich und auch nicht gewollt. RB unterscheidet sich außerdem auch dadurch von anderen Bundesliga Vereinen, dass Red Bull hier nicht nur als Sponsor auftritt, sondern die Symbolik des Vereins bestimmt. Das Logo des Vereins ist deutlich an das Red Bull Logo angelehnt, auch offizielle Fanutensilien sind offene Red Bull Werbung. Dazu kommt, was unter Fußballfans durchaus relevant ist, dass RB Leipzig keinerlei Tradition als Verein hat. Red Bull kaufte 2009 einen Verein aus der fünften Liga auf und benannte ihn in RB um. Allein durch große Summen an Geld stieg der Verein im Rekordtempo in die Bundesliga auf.

Rasenball als Gegenentwurf zu Red Bull

Die Existenz von Ultras in diesem Verein erscheint unter diesen Bedingungen als Widerspruch. Dennoch entwickelte sich eine aktive Ultraszene, versammelt unter dem Begriff „Rasenballisten“. Diese haben ein Schlupfloch gefunden, um eine Identität abseits der Marke Red Bull zu konstruieren: Rechtlich darf der Verein sich nicht Red Bull nennen. Offiziell heißt er daher RasenBallsport Leipzig e. V.. Unter dem Begriff Rasenballisten formieren sich nun mehrere Ultragruppen, die sich zu zentralen Werten der Ultrabewegung bekennen. So heißt es auf der Homepage: „Für Fussballfanatiker, die ihren Verein nicht konsumieren, sondern leben wollen. Wir bieten all denen ein zuhause beim RbL an, für die zwar die positiven Seiten des momentan erfolgreichsten Leipziger Fussballvereins überwiegen, denen es aber dennoch schwerfällt, sich mit einem Produkt zu identifizieren“
Die Rasenballisten werden von Coposescu als Graswurzelbewegung charakterisiert, welche ihren Ursprung in den Kurven der Red Bull Arena, dem Zuhause von RB, hat. Sie versuchen eine eigene unabhängige Fanszene zu organisieren. Fanutensilien werden selbst hergestellt, dabei wird konsequent auf jegliche Symbolik von Red Bull verzichtet. Typisch für Ultras und wichtig für die kollektive Identität wird auch die eigene Stadt präsentiert.  Interessanterweise grenzen sie sich auf ihrer Website explizit von Salzburg ab: „Wir sind kein zweites Salzburg! Wir sind Leipzig!“  . In Salzburg existiert mit Red Bull Salzburg der erste von Red Bull aufgekaufte Verein, der auch den Namen der Marke trägt.

Die Rasenballisten entwickeln eine alternative Identität zu RB als Marketingprodukt von Red Bull. Sie zeigen auch politisches Engagement im Stadion durch anti-rassistische und pro LGBT+ Positionierung – und geraten so mit der Vereinsführung aneinander. Red Bull möchte als Marke apolitisch wahrgenommen werden.
Im Zentrum steht aber vor allem der Gedanke, eine von Red Bull unabhängige Fanszene zu sein, die leidenschaftlich zum Team und zur Stadt steht. Weiter soll aktive und demokratische Teilhabe der Fans gefördert werden. Dazu kommt auch eine Abgrenzung zu anderen Ultra Szenen, die häufig elitär und exklusiv sind: „Beim RbL jedoch kommt man nicht in eine zerfahrene, verkrustete und starre Szene hinein, in welcher ULTRA-Gruppen vorgeben was, wann, wie gesungen wird, sondern man kann selbst eingreifen – etwas Großes, Buntes entstehen lassen.“

 Ultras und Red Bull, ein Widerspruch?

Der Widerspruch zwischen unabhängiger Fankultur und RB als Musterbeispiel des durch-kommerzialisierten Fußballs lässt sich nicht auflösen. Dies behaupten die Rasenballisten aber auch nicht. Sie wollen in erster Linie eine aktive Fankultur, die nicht nur aus passiven Konsument:innen besteht. Eine Alternative gibt es dazu in Leipzig nicht auf Bundesliganiveau. Wie die Fans im Einzelnen mit den Widersprüchen umgehen, dazu müssen noch mehr Daten erhoben werden. Der starke Bezug auf die Stadt im Sinne einer „Glokalisierung“ gedeutet: Die regional verankerten Ultras als Gegenentwurf zum multinationalen Konzern, der den Fußball kommerzialisiert, die aber ohne diesen globalisierten Konzern auch nicht existieren können und das im doppelten Sinne. Erst der Aufbau des Vereins durch Red Bull hat überhaupt einen Ort geschaffen, an dem die Ultras existieren können. Außerdem gewinnen sie ihre eigene Identität durch Abgrenzung – ohne Red Bull also auch keine Identität als Rasenballisten.

Deutlich wird inwiefern der symbolische Raum hier von Bedeutung ist. Der Kampf gegen Red Bull ist im Kern ein symbolischer, an der Struktur des Vereins wird sich kaum etwas ändern.

Weiter sollten Ultragruppen aber auch in ihrer Kohärenz nicht überbewertet werden. Es gibt keinen zentralen ideologischen Kern, den alle teilen. Ebenso handelt es sich um eine fragile Szene, in der Gruppen auftauchen und wieder verschwinden. Ultras teilen vor allem eine starke kollektive Identität, die sich auf Stadt und Verein, sowie die Gruppe an sich bezieht. Eine kollektive Identität, die als Antwort auf eine gemeinsame Problemlage, gar als antikapitalistischer Protest, gedeutet werden kann, spielt keine zentrale Rolle (einzelne Gruppen können hier eine Ausnahme bilden). Ultras sind in diesem Sinne auch nicht als soziale Bewegung zu verstehen, sondern als Subkultur. Diese kann sich aber situativ gegen Probleme richten, welche im Stadion präsent sind. Das geht von Homophobie und Rassismus bis zur Kommerzialisierung des Fußballs und aller damit einhergehenden Begleiterscheinungen. In den genannten Fällen hängt es aber von den jeweiligen Gruppen ab, ob diese Phänomene überhaupt als Problem wahrgenommen werden. Eine gemeinsame politische Zielsetzung, teilen Ultras nicht. Der Beitrag, den Ultras im Kampf gegen Antisemitismus, Homophobie und Rassismus im Stadion geleistet haben, sollte dennoch gewürdigt werden.

Zuletzt sollte nicht vergessen werden, dass RB ein besonders extremes Beispiel sein mag, die Bundesliga aber ausnahmslos kommerzialisiert ist. Alle relevanten Vereine sind Kapitalgesellschaften. Fußball bedient einen Markt, in dem es um Milliarden geht. Kein Verein, der in den Profiligen spielt, kann sich kapitalistischer Verwertungslogik entziehen. Der Hass, der sich auf RB richtet, kann mit dem, gegen einzelne, vermeintlich Verantwortliche des Finanzkapitalismus verglichen werden. Statt einer Kritik am Gesamtsystem werden einzelne Akteur:innen zu Sündenböcken gemacht, welche die Systemlogik nur am konsequentesten verkörpern.

Der Widerspruch zwischen RB Leipzig und den Rasenballisten ist somit auch kein grundlegend anderer als der zwischen jeder Ultra Gruppe, die sich gegen die Kommerzialisierung von Fußball wendet und großen Profivereinen im Allgemeinen. Vielleicht trägt gerade dieser Umstand sogar dazu bei, den Hass auf RB und seine Fans noch steigern.

Festzuhalten bleibt, dass die Ultras von RB Leipzig ihre Identität gerade durch die Abgrenzung zur Marke Red Bull konstituieren. Auch die Anhänger:innenschaft von RB ist somit in signifikanten Teilen nicht zufrieden mit der Idee des Fußballs als reinem Konsumerlebnis. Darin wird deutlich, dass die Ökonomisierung von Sport und Kultur auch dort auf Widerstand stößt, wo sie am stärksten Fortgeschritten ist und nicht mehr rückgängig zu machen ist. Dieser Widerstand kommt dabei nicht nur von klassischen sozialen Bewegungen. Der Widerstand kommt hier von den Akteur:innen, für die der Bereich, der ökonomisiert wird, von zentraler Bedeutung ist. Somit bleibt ihr Protest ein begrenzter, der keine weiteren kapitalismuskritischen Forderungen stellt, die über den Sport hinausgehen. Der kapitalismuskritische Protest als Ganzer wird aber auch ausgeweitet, da er neue Träger:innen, abseits sozialer Bewegungen, findet.

Quellen

[1] Ebd. vgl. auch die weiterführende Literatur.

[2] http://www.rasenballisten.de/ zuletzt abgerufen am 26.01.21

[3] Ebd.

Weiterführende Literatur 

Ultras und Fußball :

[a] Delitz, Heike (2018): Kollektive Identitäten. Bielefeld: Transcript.

[b] Duttler, Gabriel und Boris Haigis (Hg.). (2016): Ultras. Eine Fankultur im Spannungsfeld unterschiedlicher Subkulturen. Bielefeld: Transcript.

[c] Kern, Thomas (2008): Soziale Bewegungen. Ursachen, Wirkungen, Mechanismen. Wiesbaden: Springer

Kapitalistische Krise :

[d] Dörre, Klaus; Lessenich, Stephan und Hartmut Rosa: Kapitalismus – Soziologie – Kritik. 2009. Frankfurt: Suhrkamp.

[e] Fraser, Nancy und Rahel Jaeggi. 2020: Kapitalismus. Ein Gespräch. Frankfurt: Suhrkamp.

[f] Offe, Claus. 1986: Strukturprobleme des kapitalistischen Staates: Aufsätze zur Politischen Soziologie. Frankfurt: Suhrkamp.

Bild 1: Jimdo
Bild 2: https://twitter.com/rasenballisten/header_photo