Orte der Klimabewegung

Räumliche Orte als Kristallisationspunkte der Klimabewegung

Von Monique Scheuring, Till Saremba und Yolanda Schlichter, März 2022

In den vergangenen Jahren waren verschiedene räumliche Orte innerhalb der Klimabewegung in einem besonderen Fokus. Mit diesem Beitrag sollen die Bedeutungen und Auswirkungen dieser Orte für die Klimabewegung und darüber hinaus diskutiert werden.

Seit dem Aufkommen von Fridays For Future (FFF) im Jahr 2018 ist die die Klimakrise und der Umgang mit dieser im öffentlichen politischen Diskurs fest verankert. Im Vorfeld der Coronapandemie stand auch durch den Mobilisierungserfolg von FFF das Thema deutsche Klimapolitik ganz oben auf der politischen Agenda. Durch die Aktionsform des Schulstreiks und den dadurch stärker wahrnehmbaren klimapolitischen Diskurs gelang es FFF am 20.September 2019 rund 1,4 Mio. Menschen in über 500 Städten alleine in Deutschland auf die Straße zu bringen [1]. Nichtsdestotrotz setzten keine substanziellen Veränderungen in der deutschen und internationalen Klimapolitik ein. Hinsichtlich der weiterhin stattfindenden Klimastreiks hat eine Normalisierung in der Gesellschaft, aber auch bei den Adressat:innen in der Politik mit dem Protest stattgefunden. Der Bewegungsforscher Thomas Kern bezeichnet dies als einen Mechanismus der Kontraktion, in dem sich eine Routine zwischen den ursprünglichen Konfliktparteien einpendelt [2]. Nach dem idealtypischen Verlauf sozialer Bewegungen nach Roth und Rucht stehen daraufhin mögliche Handlungsszenarien für die Akteur:innen sozialer Bewegungen an [3]. Diese spalten sich auf in eine Institutionalisierung und eine Radikalisierung der Bewegung. In unserem Projekt wird verstärkt auf den möglichen Radikalisierungscharakter der Klimabewegung eingegangen.

Doch was genau bedeutet „radikal“ in diesem Zusammenhang?

Die Bedeutung leitet sich vom lateinischen Wort Radix ab, was als „Wurzel“ zu übersetzen ist. Eine Radikalisierung setzt also auf eine tiefgreifende Veränderung, welche anstrebt Probleme tiefgreifend an der Wurzel zu bearbeiten. Die Appelle des radikalen Umdenkens aus der Wissenschaft, führten nicht zu einem schnellen Umschwung in der Klimapolitik, sondern ebnen den Weg für eine Radikalisierung von Aktionsformen der Klimabewegung [4]. Radikale Aktionsformen wie die des zivilen Ungehorsams (Anm.: Protestform, bei der bewusst gegen rechtliche Normen verstoßen und ggf. eine Bestrafung nach geltendem Recht in Kauf genommen wird [5]) sind dabei im Kontext der Klimabewegung spätestens seit den Massenblockaden des Bündnisses Ende Gelände[1] in den Medien und der Öffentlichkeit präsent. Hier lässt sich hervorheben, dass die Radikalität im Zusammenspiel mit ausbleibendem Handeln der Politik im Zusammenhang steht. Ein schnelleres Handeln der Politik aufgrund des Zeitdrucks der Klimakrise, würde unseres Erachtens nach einer weiteren Radikalisierung entgegenwirken.

Zentrale räumliche Orte des Klimawiderstandes: „Hambi, Danni, Lützi“

Als Folge unzureichender politischer Entscheidungen haben sich in Deutschland Orte gebildet, an denen sich die Bewegung sammelt und direkt gegen die Zerstörung der Umwelt und des Klimas protestiert werden kann. In unserem Projekt werden wir diese Punkte als „räumliche Kristallisationspunkte“ bezeichnen.

Der erste dieser räumlichen Kristallisationspunkte entstand im Hambacher Forst, auch Hambi genannt. Der Wald gehört dem Energiekonzern RWE und wird während der Rodungssaison von Oktober bis März nach und nach abgeholzt, damit Braunkohle im Tagebau Hambach abgebaut werden kann. Jener ist einer von drei großen Tagebauen im Rheinischen Braunkohlerevier. Von den ursprünglichen 5.500ha ist heute nur noch etwa ein Zehntel übrig. Die Besetzung des Hambis begann 2012 und besteht bis heute. Eine Waldbesetzung ist eine Aktionsform des zivilen Ungehorsams. Um den weiteren Kohleabbau voranzutreiben, wurde im Herbst 2018 angefangen die Besetzung zu räumen. Jedoch wurde aufgrund eines Eilverfahrens die Räumung gestoppt und die geräumten Strukturen direkt wieder besetzt [6].  Die Räumung erzeugte eine große mediale Aufmerksamkeit, z.B. durch einen Besuch der Klimaaktivistin Greta Thunberg auch international. Im September 2021 war der Hambi wieder in den Schlagzeilen, als das Kölner Verwaltungsgericht die Räumung 2018 für rechtswidrig erklärte [7].

Ein weiterer möglicher Kristallisationspunkt ist die Besetzung des Dannenröder Forsts, auch Danni genannt. Diese Besetzung entstand als Protest gegen den Weiterbau der Autobahn A49, welche Kassel und Gießen verbinden sollte. Dabei verläuft die Teilstrecke durch ein Natur- und Trinkwasserschutzgebiet, was u.a. Frankfurt a.M. versorgt. Als Protest gegen die Rodung wurde der Wald am 30.09.2019 besetzt [9]. Die Räumung der Besetzung begann am 1. Oktober 2020, dabei häuften sich in den darauffolgenden Wochen die Schlagzeilen über das unvorsichtige und gewaltsame Vorgehen der Polizei und die Meldungen von verletzten Besetzer:innen in den Medien [10]. Sehr viel mediale Aufmerksamkeit wurde auch hier u.a. durch den Besuch von prominenten Personen generiert. So kamen z.B. Fridays for Future Aktivist:innen wie Luisa Neubauer und Greta Thunberg, Sea Watch Kapitänin Carola Rackete oder der Pianist Igor Levit  in die Waldbesetzung [11]. Am 8. Dezember 2020 war die Räumung abgeschlossen [12]. Ausgehend von der durch den Danni entstandenen Reichweite und dem Zuspruch für diese Aktionsform wurden 2021 mehrere Waldstücke in ganz Deutschland besetzt.

Der dritte und zum aktuellen Zeitpunkt relevanteste Ort ist das Dorf Lützerath, auch Lützi genannt. Er befindet sich direkt an der Abrisskante des Tagebaus Garzweiler II im Rheinischen Braunkohlerevier und ist somit eines von sechs durch Abbaggerung bedrohte Dörfer [13]. Ständigen Protest vor Ort gibt es, seit RWE im Juni 2020 die Landstraße zwischen Lützerath und Keyenberg abriss. Es wurde eine Mahnwache angemeldet, die bis heute besteht. Seitdem wurde regelmäßig gerodet und Häuser abgerissen, alles begleitet von Protesten durch Haus- und Baumbesetzungen, aber auch Großdemonstrationen und Gottesdiensten [14]. Eckhard Heukamp ist der letzte offizielle Bewohner des Dorfes. Aufgrund seiner Klage gegen RWE wurde das Dorf bis jetzt noch nicht geräumt und abgerissen. Er stellt Aktivist:innen eine Wiese zur Verfügung auf der z.B. kleine Holzhütten und Camp Möglichkeiten gebaut werden. Außerdem gibt es mehrere Baumhäuser und besetzte Häuser im Dorf. Insgesamt leben etwa hundert bis zweihundert Aktivist*innen vor Ort [15]. In und um Lützerath kommt es immer wieder zu Demonstrationen mit mehreren Tausend Teilnehmenden, wie z.B. am 31.10.2021, bei der eine kleinere Gruppe der Demonstrierenden an die Abrisskante gelangten und dadurch den Kohlebagger kurzzeitig stoppen konnten [16].

Räumliche Kristallisationspunkte des Klimawiderstandes in Deutschland?

Anliegen dieses Projektes war es die Gemeinsamkeiten dieser Orte herauszuarbeiten und die zentralen Merkmale aufzuführen. Zentral für diese Orte ist das große Mobilisierungspotenzial, welches zu einem möglichen Räumungsbeginn, viele Aktivist:innen anzieht. Dieses Mobilisierungspotenzial ist auch bedingt durch Formierungs- und Sammlungsmomente solcher Orte. Durch Workshops, Vorträge und die generelle Weitergabe von praktischem und theoretischem Wissen mit einer thematischen Spannweite von der Vorbereitung einer Räumung bis hin zum Kampf für Klimaschutz der Indigenen in Mexiko, verbreitet sich dieses Wissen durch das Zurücktragen in die Wohnorte der Aktivist:innen. Diese zentralen Orte an denen Wissen akkumuliert, gemeinsame Praxiserfahrungen gesammelt und eine Verbindung zu den Räumen aufgebaut wird, führen dazu, dass die Orte Anziehungspunkte für sowohl Neuinteressierte als auch bereits erfahrene Aktivist:innen sind. Diese Entwicklung wirkt dabei verstärkend auf das Mobilisierungspotenzial. Ein weiterer wichtiger Bestandteil solcher Orte ist die direkte Nähe zum Ort der Zerstörung. So waren die Besetzungen im Dannenröder Forst und im Hambacher Forst direkte Reaktionen auf den Bau einer Autobahn beziehungsweise der Erweiterung des Tagebaus Hambach. Um sich der Zerstörung der Orte entgegenzusetzen, treten vermehrt Aktionen des zivilen Ungehorsams als zentrale Protestform an den Kristallisationspunkten auf [17].

Die von uns herausgearbeiteten Zuschreibungen der zentralen Punkte wurden in einem weiteren Schritt versucht mittels zweier Interviews aus unterschiedlichen Perspektiven weiter zu verifizieren. Dafür führten wir zum einen ein Interview mit dem sozialen Bewegungsforscher Piotr Kocyba (TU Chemnitz) und mit einem:r Aktivist:in aus Lützerath durch. (Die geführten Interviews können hier auf dem Blog nachgelesen werden.)

Kristallisationspunkte!

In dem von uns durchgeführten Interview wird aus aktivistischer Perspektive die Protestformation in Lützerath als Kristallisationspunkt bezeichnet. Das Dorf ist essenziell dahingehend, da es laut des:r Aktivist:in aus Lützerath aktuell einen „Dreh- und Angelpunkt“ der deutschen Klimabewegung darstellt. Hier ist zur regelmäßigen thematischen Auseinandersetzung und Prozessbegleitung im Streit mit dem Energiekonzern RWE viel Selbstorganisation und Infrastruktur entstanden. Die Endlichkeit dieser Protestform ist deutlich spürbar und wurde im Gespräch mit dem:r Aktivist:in als  „Räumungstourismus“ bezeichnet (Anm.: gemeint ist, dass viele Menschen nur kurz vor bzw. zu Beginn einer geplanten Räumung zum betroffenen Ort kommen). In Vorbereitung auf die Räumung werden anschlussfähige Aktionsformen gewählt, um so möglichst vielen Menschen mit unterschiedlichsten Hintergründen eine Teilnahme an den Protesten zu ermöglichen. Diese finden im kleinen persönlichen Rahmen statt.

Im Expertengespräch mit dem Wissenschaftler Piotr Kocyba betonte dieser, dass die Form des verorteten Protestes ein etablierter Ausdruck politischer Partizipation ist. Das ist im Klimakontext bereits in der Anti-Atomkraft-Bewegung zu beobachten gewesen, beispielsweise in Gorleben. Die Orte, an denen sich der Protest formiert bilden die Speerspitze eines größeren Ganzen: laut Piotr Kocyba, handelt es sich um Momente in denen Menschen einen ideologischen Kampf direkt vor Ort führen können, gemeinsame Identitäten bilden, Wissen und Ressourcen generieren und symbolische Bilder mit einer hohen Strahlkraft für die Bewegung kreieren. Durch die entstandene Reichweite verbreitet sich die Thematik auch außerhalb der Bewegung. Kristallisationspunkte sind somit als ein treibender Faktor für die gesamte Bewegung anzusehen. Außerdem ist der Protest mit vielen Lernprozessen verbunden, da während Diskussionen Perspektiven verschiedener Lebensrealitäten besprochen und hinterfragt werden. Das Vertrauen darin mit dem verorteten Protest zeitnah politische Richtungsänderungen anzustoßen, wird, nach Kocyba, trotz einer neuen Regierung enttäuscht werden. Gleichzeitig werden die Enttäuschung und Wut darüber Anlass sein, weiterhin stark zu mobilisieren und zu protestieren.

Das Oberverwaltungsgericht Münster hat am 28.03. 2022 entschieden, dass Lützerath abgebaggert werden soll. Die Räumung oder der mögliche Erfolg der Besetzung werden zeigen, ob räumliche Kristallisationspunkte auch weiterhin zentraler Bestandteil der Klimabewegung sein werden.

[1] Bündnis von Menschen aus verschiedenen sozialen Bewegungen, welches seit 2015 jährlich Massen- und Kleingruppenaktionen zivilen Ungehorsams v.a. in Braunkohlerevieren organisiert, um für Klimagerechtigkeit zu protestieren [8].

Literaturverzeichnis

[1] Haunss, Sebastian; Sommer, Moritz (Hg.) (2020): Fridays for Future. Die Jugend gegen den Klimawandel Konturen der weltweiten Protestbewegung. Bielefeld: Transcript (X-Texte zu Kultur und Gesellschaft).

[2] Kern, Thomas (2008): Soziale Bewegungen. Ursachen, Wirkungen, Mechanismen. 1. Aufl. Wiesbaden: VS Verl. für Sozialwissenschaften (Lehrbuch). URL:
http://swbplus.bsz-bw.de/bsz266572650inh.htm.

[3] Roth, Roland; Rucht, Dieter (2008): Die sozialen Bewegungen in Deutschland seit 1945. Ein Handbuch. Frankfurt/Main u.a.: Campus-Verl. URL:
http://d-nb.info/982080999/04.

[4] Unmüßig, Barbara (2015): Zivilgesellschaft und Klimawandel Eingeschränkte Handlungsspielspielräume, Protest und Kooptation. In: Forschungsjournal Soziale Bewegungen 2015 (4), S. 16–22. URL:  https://www.wiso-net.de/toc_list/FJSB/2015#FJSB__092C63E61357CB988AD819157BE2E835

[5] BPB; Pabst, Andrea (2012): Ziviler Ungehorsam: Annäherung an einen umkämpften Begriff. In: Aus Politik und Zeitgeschichte. URL: https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/138281/ziviler-ungehorsam-annaeherung-an-einen-umkaempften-begriff/ Zugriff 22.01.2023

[6] Hambi Bleibt: Hambi bleibt/ Hintergründe. URL: https://hambacherforst.org/hintergruende/die-kohle/ Zugriff: 27.01.2022

[7] ZDF: Hambacher Forst. Räumung der Baumhäuser war rechtswidrig. URL: https://www.zdf.de/nachrichten/politik/raeumung-hambacher-forst-urteil-100.html  veröffentlicht am 08.09.2021; Zugriff 27.01.2022

[8] Ende Gelände: Ende Gelände/ Über Uns. URL: https://www.ende-gelaende.org/ueber-uns/ Zugriff 22.01.2023

[9] TAZ. Ursula Wöll: Der besetzte Dannenröder Forst. Gegen die Rodung für die A49-Autobahn. Die A49 soll durch den Dannenröder Forst gebaut werden. UmweltschützerInnen haben ihn besetzt und müssen auch den grünen Umweltminister überzeugen. URL: https://taz.de/Gegen-die-Rodung-fuer-die-A49-Autobahn/!5628919/ veröffentlicht am 12.10.2019; Zugriff 27.01.2022

[10] TAZ. Katharina Schipowski: Wieder ein Absturz bei der Räumung. Einsatz im Dannenröder Wald. Während die Polizei ins Innere des Waldes vordringt, häufen sich die teils schweren Unfälle. Die Polizei setzt Elektroschocker ein. URL: https://taz.de/Einsatz-im-Dannenroeder-Wald/!5727137/ veröffentlicht am 22.11.2020; Zugriff 27.01.2022

[11] Deutschlandfunk. Ludger Fittkau: Autobahnbau gegen Klimaschutz. Proteste im Dannenröder Forst. Hg. v. Deutschlandfunk. URL: https://www.deutschlandfunk.de/proteste-im-dannenroeder-forst-autobahnbau-gegen-klimaschutz-100.html   veröffentlicht am 4.12.2020; Zugriff 27.01.2022

[12] Danni-Ticker (2020): [since 13:10] Alle Strukturen in Oben sind geräumt || In Oben all structures got evicted. Twitter, 08.12.2020. URL: https://twitter.com/DanniTicker/status/1336288407857795073?s=09