Christin Reuter, März 2021
Für viele Menschen war das Jahr 2016 ein einschneidendes in der viel zitierten Krise der westlichen Demokratien. Vom Referendum bis schließlich zum Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union, über den Anstieg des Rechtspopulismus in Westeuropa, bis hin zur Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten, waren dies alles Ereignisse, die viele vor ein Rätsel stellten. Nachfolgend soll es um den Ursprung der Krise und die Rolle von sozialen Bewegungen in deren Verlauf gehen. Insbesondere wird ein bestimmter Lösungsansatz zur Erklärung dieses Trends beleuchtet: der des „Emotional Turn“.
„Emotional Turn“: Was ist das?
Der Begriff „Emotional Turn“, frei übersetzt, die „emotionale Wende“ oder auch „Wendung hin zum Gefühl“,[i] existiert nicht erst seit 2016. Schon zu Zeiten von Platon und Aristoteles waren der Einfluss und die Bedeutung von Emotionen auf die Politik und insbesondere politische Akteur:innen ein wichtiges Thema. Allerdings weist das Konzept des „Emotional Turn“ darauf hin, dass es einen Wandel in der Bedeutung von Emotionen gab. Ziesche lokalisiert diesen vor allem in der Entwicklung weg von rationalen Kompromissen, hin zu einer Politik der starken Hand. Als besonders bedeutend ist dabei auch die Personalisierung der Politik anzusehen. In den vergangenen Jahren traten immer mehr Personen in den Vordergrund, die durch Charisma und die Ansprache von Emotionen, anstatt durch tatsächliche Politik zu überzeugen versuchten.
Ein zweites Phänomen in diesem Zusammenhang sind die verstärkten Rufe nach direkter Demokratie und der relative Erfolg von Referenden und neuen Parteien, insbesondere (vermeintlichen) Bewegungsparteien, die für bürgernähere, direkte Politik kämpfen. An dieser Stelle wird auch die Verbindung zu Emotionen deutlich: Bewegungen haben von Grund auf einen stärkeren Bezug zu Emotionen als es bei traditionellen Parteien der Fall ist.
„Emotional Turn“ und Bottom-up Demokratie
Besonders in Protestbewegungen, die mehr und mehr die Emotionen in die Parlamente trugen und tragen, ist die Wende hin zum Gefühl sichtbar. So schaffte es zum Beispiel die britische Bewegung Momentum, eigene Ideen und Ansätze zum kollektiven Handeln bis ganz nach oben in die Labour Party einzubringen. Aus anderen Protestbewegungen gingen direkt neue Parteien wie Podemos in Spanien hervor. Oft sehen traditionelle Parteien auch die Notwendigkeit sich der emotionalen Politik neuer Parteien und Bewegungen anzupassen, so dass die Politisierung von Emotionen auch als Strategie gesehen werden kann, die Parteien nutzen, um Anhänger:innen von Bewegungsparteien zurück zu gewinnen.
Der „Emotional Turn“ manifestiert sich in verschiedenen Bereichen: bei Politiker:innen, Wähler:innen, und auf den Ebenen von Polity (Form), Policy (Inhalt) und Politics (Prozess). Hinsichtlich Politiker:innen ist das Phänomen besonders in der Nutzung sozialer Medien zu finden, gut zu sehen am Beispiel Donald Trumps, aber auch anhand der Brexit Kampagne im Vereinigten Königreich. Bei Wähler:innen zeigt sich besonders, dass Gruppen zur Wahl animiert werden, die vorher nur wenig Interesse für Politik gezeigt haben.
Auf der Polity und Policy Ebene ist der „Emotional Turn“ sichtbar in der Erschaffung von scheinbar unnötigen politischen Strukturen und Institutionen, die stark auf Emotionen anspielen, sowie politischen Agenden und Programmschriften, die mehr auf Emotionalität abzielen, als dass sie versuchen mit Fakten zu überzeugen. Noch bedenklicher: auf Politics Ebene liegt der Fokus oft auf recht unbedeutenden, irrationalen Zielen. Exemplarisch dafür ist die diskursive Auseinandersetzung bezüglich der Fischerei zwischen Großbritannien und der EU, obgleich der Anteil der Fischerei an der Wirtschaft auf beiden Seiten verschwindend gering ist.
Ursprung der Krise
Bedeutend für diese Wende zur Emotion ist laut Ziesche eine Reihe von Krisen, beginnend mit der Finanzkrise im Jahr 2008, die sich gegenseitig beeinflussen.
Die Finanzkrise 2008 und die daraus resultierende ökonomische Krise war für viele Menschen ein Ausdruck des Versagens der hegemonialen kapitalistischen Gesellschaftsformationen und das Vertrauen von Bürger:innen in ihre Regierungen erreichte in verschiedenen Ländern einen neuen Tiefstand. Politische Institutionen waren nicht länger in der Lage, die ökonomische Krise zu bewältigen und wenn, dann nur durch Rezession und Austeritätsmaßnahmen, die den angesprochenen Trend nur verstärkten. Was folgte war eine politische Krise mit einem Hauptsymptom: fehlendes Vertrauen in politische Eliten und Verantwortliche.
Im Einfluss der wirtschaftlichen auf die politische Krise zeigt sich die enge Verflechtung verschiedener Krisendimensionen, die sich gegenseitig verschärfen.[i] Diese Vielzahl an aufeinanderfolgenden Krisen führte zu einem ausgedehnten „Window of Opportunity“ für eine Politik der Emotionen, welches besonders populistische Bewegungen zu nutzen wussten. Bürger:innen fühlten sich als würden „die Eliten“ sie nicht mehr ausreichend repräsentieren und so wandten sich immer mehr Menschen anderen, emotionaleren Formen der Meinungsäußerung zu.
Auf dem Weg zur post democracy?
Es scheint, dass die emotionale Wende bisher zum größten Teil ihre negative Seite zeigte. Eine wachsende Polarisierung in verschiedensten Ländern könnte möglicherweise in naher Zukunft zu einem Zustand der „Post Democracy“ führen. Unter „Post Democracy“ ist nach Colin Crouch eine Gesellschaft zu verstehen, in der zwar noch Wahlen abgehalten werden und die Institutionen der Demokratie noch existieren, sie aber weitestgehend nur noch eine Art formelle Schale darstellen. Tatsächlich kontrollieren kleine Teile der Elite die Debatte, die aber reines Spektakel anstatt wahrer Politik ist.[ii] Durch die Nutzung von Emotionen kann dieser Effekt verstärkt werden. Ob in manchen Ländern schon von einem Zustand der „Post Democracy“ gesprochen werden kann ist nach wie vor umstritten und bedarf weiterer Forschung. Der „Emotional Turn“ kann dabei aber als wichtiges Element angesehen werden.
Ebenso ist weitgehend ungeklärt, ob die emotionale Wende auch positive Seiten haben kann. Bewegungsparteien verhalten sich oft eher radikal in Hinblick auf Demokratie, was einerseits die Politik weiter untergraben und in immer schwerere Krisen stürzen, aber andererseits auch die Beteiligung von mehr Menschen an der Politik fördern könnte. Ob positiv oder negativ, die Bedeutung von Emotionen in Politik bleibt relevant. Weiter wird es interessant sein zu sehen, inwieweit sich dieser Trend in Anbetracht der Wahlniederlage Donald Trumps und dem Ende des Brexits zukünftig zeigt. Ob diese Ereignisse einen Schritt in die Richtung der Lösung der Krise der westlichen Demokratien bedeutend könnten, bleibt abzuwarten.
Quellen
[i] Ulrich Brand, 2009, Brand, U. (2009). Die Multiple Krise. Dynamik und Zusammenhang der Krisendimensionen, Anforderungen an politische Institutionen und Chancen progressiver Politik. Heinrich Böll Stiftung, Berlin.
[ii] Colin Crouch, 2016, The March Towards Post-Democracy, Ten Years On, The Political Quarterly https://onlinelibrary.wiley.com/doi/pdfdirect/10.1111/1467-923X.12210
Weiterführende Literatur
Crouch, Colin. (2004). Post-democracy. Cambridge: Polity.
González-Hidalgo, Marien, & Zografos, Christos. (2020). Emotions, power, and environmental conflict: Expanding the ‘emotional turn’ in political ecology. Progress in Human Geography, 44(2), 235-255.
Jasper, James M. (2018). The emotions of protest. Chicago: University of Chicago Press.
Merkel, Wolfgang. (2014). Is there a crisis of democracy? Democratic Theory, 1(2), 11-25.
Walby, Sylvia. (2015). Crisis. Cambridge: John Wiley & Sons.