Soziale Bewegungen und Krisenmanagement von unten
Was verbindet eine spanische Bewegungspartei mit einem deutschen Verein für Geflüchtetenhilfe und was hat die katalanische Unabhängigkeitsbewegung damit zu tun? Politische Partizipation der Gesellschaft kann diese spalten oder verbinden. Dabei erscheint sie in vielfältigen Arten und Formen. Doch selbst die unterschiedlichsten sozialen Bewegungen haben oft mehr gemeinsam, als es auf den ersten Blick scheint.
Harriet Wendt, Lea Fischer – 12.02.2021
„Wir schaffen das!“ – Nur wie?
Auf der Bundespressekonferenz am 31.08.2015 sagte die Bundeskanzlerin Angela Merkel: „Wir schaffen das!“. Gefallen ist der Satz im Zusammenhang mit der Fluchtmigration, als in den Jahren 2014-2016 immer mehr Menschen nach Deutschland kamen. Grund für die Migration der Geflüchteten waren kriegerische Auseinandersetzungen, vor allem in Syrien. Ein Satz der für viel Kritik, Zweifel, aber auch Mut sorgte und der deswegen auch polarisierte. Die Bezeichnung dieser Krise als „Flüchtlingskrise“ ist auf Grund der fehlenden Zuweisung der Krisenursache und der impliziten Schuldzuweisung an die Geflüchteten, mindestens diskutabel. Denn vielmehr war es ein Problem der Behörden, die mit der Grundlagenversorgen, Registrierung der Menschen, Bearbeitung der Asylanträge nicht nachkamen und so die Situation weiter verschärften. Deswegen wäre es nach Schneider (TU Chemnitz) besser dies als eine „Krise der Asylpolitik“ zu charakterisieren.
Die Situation in ländlichen Gebieten
Doch wie ging und geht die Zivilgesellschaft mit Herausforderungen, die im Kontext von Flucht und Migration entstanden sind, wie Integration der Geflüchteten um? Mit diesem Thema setzt sich unter anderem das Forschungsprojekt „Zukunft für Geflüchtete im ländlichen Raum“ auseinander. Wie der Titel bereits verrät, bezieht sich das Projekt auf ländliche Gebiete, die den Großteil der deutschen Fläche ausmachen, in der Empirie jedoch zu diesem Thema oft außen vorgelassen werden. Soziales Engagement weist laut Hanne Schneider zwischen urbanen und ruralen Räumen diverse Unterschiede auf: So ist beispielsweise die Zahl der Menschen, die sich sozial engagieren auf dem Land prozentual wesentlich höher als in urbanen Gebieten. Allerdings unterscheidet sich die Art der freiwilligen Beteiligung. In der Stadt sind die Menschen vorzugsweise in der Forschung aktiv, in ländlichen Gebieten ist u.a. die freiwillige Feuerwehr sehr beliebt. Die Hilfe für geflüchtete Menschen bestand in ländlichen Räumen in der Grundversorgung (Aufnahme und Registrierung). Vorher existierten kaum Berührungspunkte mit geflüchteten oder migrantischen Bürger:innen, so dass zuvor auch keine Strukturen für Geflüchtetenhilfe entstanden waren. Dennoch setzte sich nach der akuten Situation in 2015/16 setzte sich die Hilfe weiter fort, so Schneider. Nach wie vor gibt es viele Freiwillige und aktive Nicht-Regierungsorganisationen, die sich nun jedoch vermehrt um die Integration – nicht wie zu Beginn um die Aufnahme und Registrierung – kümmern. Ein Problem, vor allem in ruralen Gebieten, stellt der demographische Wandel dar – junge Freiwillige fehlen.
Hilfe für Geflüchtete in Zeiten der Pandemie
Hanne Schneider weist auf die momentan schwierige Lage für Geflüchtete während der Corona Pandemie hin. Sie sagt, es sei eine versteckte Krise, da Probleme, wie ausfallende Sprachkurse oder der Wegfall des sozialen Lebens nach außen nicht sichtbar sind.
Wir alle identifizieren uns mehr oder weniger mit unserer Heimatstadt, unserem Heimatland oder im Falle von Deutschland mit Europa. Menschen, die nicht aus ihrer Heimat fliehen mussten, fällt es oft schwer sich vorzustellen, wie es Geflüchteten dabei geht große Teile ihrer Identität, wie Wohnraum, Freund:innen, Arbeit und oftmals auch ihre Familie hinter sich zu lassen. Die Identifikation mit dem Heimatland besteht zwar oftmals weiter, gegebenenfalls entsteht durch die Ansiedlung in einem anderen Land jedoch auch ein neues, weiteres Identitätsbewusstsein.
Im Folgenden geht es nun um das Thema der doppelten Identitäten und Auswirkungen derer, hier im Zusammenhang mit der Unabhängigkeitsbewegung in Katalonien.
Eine Systematisierung der Unabhängigkeit – die “Catalan – Question”
Die katalanische Politik ist in den letzten Jahren verstärkt in den Fokus der europäischen Medien gerückt. Grund dafür sind die dortigen Unabhängigkeitsbestrebungen, bei denen sich im Fall der „Catalan-Question“ frühere Forderungen nach mehr Selbstverwaltung in das Verlangen der Lossagung vom spanischen Staat gewandelt haben. Der Fall Katalonien wird in der Literatur üblicherweise als typisches Beispiel für eine staatenlose Nation mit einem vorherrschenden staatsbürgerlichen Nationalismus dargestellt. Dort neigt die Bevölkerung aufgrund ihrer doppelten spanisch-katalanischen Identitäten eher dazu, Forderungen nach Selbstverwaltung statt Unabhängigkeit zu erzeugen. Jüngste Entwicklungen zeigen jedoch, dass die Unabhängigkeit selbst von Personen und Gruppen in hohem Maße unterstützt wird, die sich bis zu einem gewissen Grad mit der spanischen Identität identifizieren. Intensive Globalisierung, steigende wirtschaftliche Unabhängigkeit, sowie vermehrte Einbindung der Regionen führen zu einer stärkeren Beteiligung nicht staatlicher Akteure. Die traditionelle Souveränitätsrolle des Staates existiert nicht mehr, jedoch bleibt er, angepasst an die aktuellen Bedingungen, der Hauptakteur. Darum wird nun nicht mehr nur politische Autonomie, sondern ein eigener, unabhängiger Staat gefordert.
Argumentationsstrategien separatistischer Parteien
Laut Dalle Mulle und Ivan Serrano gibt es drei verschiedene Argumentationstypen: 1) Gemeinschaft (Communitarian), 2) Wahl (Choice) und 3) Schadensbehebung (Remedial), mit denen separatistische Parteien ihre Abspaltungsforderungen legitimieren. Bei Argumentationen der Gemeinschaft geht es dabei darum, welche Gruppen – wenn überhaupt – ein Recht auf Selbstbestimmung haben. “Choice”-Argumente betonen das Recht jeder gebietsmäßig konzentrierten Gruppe, ihre territorialen Grenzen demokratisch bestimmen zu dürfen. Argumente der Schadensbegrenzung sehen eine politische Abspaltung unter besonderen Umständen wie beispielsweise Menschenrechtsverletzungen vor. In ihrem Beitrag “Between a Principled and a Consequentialist Logic: Theory and Practice of Secession in Catalonia and Scotland” ¹ untersuchen sie die das Vorkommen dieser Argumente in separatistischen Parteien in Schottland und Katalonien. Unabhängigkeitsakteure, die diese Argumente verwenden, neigen allerdings auch dazu, sie in unterschiedlichen Kombinationen ineinander zu verschmelzen, um vielfältige Argumente für Unabhängigkeit zu entwickeln, anstatt an einer monistischen Argumentation festzuhalten. Hinzu kommt eine vierte Argumentationsart, die der Instrumentalisierung, mit der Behauptung eine Unabhängigkeit bedeutet mehr Wohlstand und eine bessere Regierung für die Bevölkerung.
Wahlergebnisse als Ergebnis (Folge) ethnischer Identitäten?
In „Just a matter of identity? Support for Independence in Catalonia.” 2 nahm Serrano eine empirische Untersuchung der sozialen Grundlagen für die Unterstützung der Unabhängigkeit Kataloniens vor. Ivan Serrano thematisiert eine mögliche Verbindung zwischen den Einstellungen der Bürger:innen und deren politischen Status, sowie mögliche unabhängige Aspekte. Auch die von ihm aufgestellte „margins“ Hypothese wird erwähnt: Diese besagt, dass das Verhalten derjenigen, die für die Unabhängigkeitspartei stimmen, mit ethnischen Hintergründen zwar erklärt werden kann. Jedoch werden diese ethnischen Beweggründe nicht hervorgehoben, was den Schlüssel zum Erfolg darstellt, da so auch Wähler:innen, die nicht gebürtig aus Katalonien stammen, angesprochen und gewonnen werden können.
Insgesamt deuten die Ergebnisse der Untersuchung darauf hin, dass eine direkte Verbindung zwischen ethnischer Identität und der Unterstützung von Unabhängigkeitsbewegungen nicht notwendigerweise besteht, da Identitäten niemals ausschließlich einem einfachen ethno-kulturellen Muster folgen. Dies erklärt auch das scheinbare Paradox der doppelten Identitäten, die unter der Mehrzahl der Befürworter:innen von Unabhängigkeitsbewegungen bestehen.
Soziopolitische Variablen haben sich als ein Indikator für die Unterstützung von Unabhängigkeitsbewegungen erwiesen. So neigen Wähler:innen nationalistischer Parteien eher dazu, auch separatistische Parteien zu unterstützen. Auch die ideologische Einstellung einer Person hat erheblichen Einfluss auf deren Bereitschaft zur Unterstützung einer Unabhängigkeitsbewegung. Nationale Identitäten sind für die politische Einstellung von großer Bedeutung, allerdings ohne an individuelle Identitäten gebunden zu sein.
Unabhängigkeitsbewegungen und deren Unterstützer:innen streben nach Veränderung. Veränderungen, die oftmals zivilgesellschaftlich, “von unten” sozusagen, durchgesetzt werden soll. Aber was passiert, wenn zivilgesellschaftliche Bewegungen in ihren Bestrebungen tatsächlich erfolgreich sind? Welche Folgen bringt der institutionelle Aufstieg einer Bewegung mit sich? Antworten dazu liefert eine Untersuchung der spanischen Bewegungspartei “Podemos”.
Einmal Bewegungspartei – immer Bewegungspartei? Podemos und die Institutionalisierung
Zum Wahlerfolg von Podemos bei den Europawahlen 2014 erklärte Pablo Iglesias Turrion, Gründer der Bewegungspartei Podemos, in einer Rede:
“Podemos was not born to play a token role. We were born to go out and
get them all. […] We are going to work for the union of the peoples of the
south of Europe, in defence of sovereignty, and of a decent and democratic
Europe. A Europe in which no financial power is above the interests and
will of ordinary people.” ³ (Speech by Pablo Iglesias, translation by
Richard Mac Duinnsleibhe) [S27]
Wer ist überhaupt Podemos?
Podemos, zu Deutsch «Wir können», ist eine linkspopulistische Partei, die im Januar 2014 unter anderem von dem Politologen Pablo Iglesias Turrion gegründet wurde und klare Positionen gegen den Sparkurs der spanischen Regierung sowie Anti-Korruptions- und Anti-Establishment- Ansichten vertrat. Die Partei entstand im Zuge der Proteste der 15-M-Bewegung gegen soziale Ungleichheit und Korruption. Dabei handelt es sich um große Proteste, Demonstrationen und Besetzungen gegen die Austeritätspolitik in Spanien, die am 15. Mai 2011 begannen und sich schnell über verschiedene Netzwerke wie Real Democracy NOW verbreitete. Nach den spanischen Parlamentswahlen im November 2019, bei denen die Partei und ihre Verbündeten 12,8% der Stimmen und 35 Sitze im Abgeordnetenhaus errang, ging Podemos eine Koalitionsregierung mit der sozialdemokratischen Partei PSOE ein, dem ersten Mehrparteienkabinett der gegenwärtigen spanischen Demokratie.⁴
Podemos und der Institutionalisierungseffekt
Podemos präsentierte sich in der Gesellschaft als Alternative zur politischen Parteienelite Spaniens. Dabei stellte sie sich nicht nur als eine neue Partei dar, sondern als neues ein neues politisches Konzept. Podemos’ Ursprünge sind die einer Bewegungspartei. Als hybride politische Akteurin definiert sich Podemos durch ihren Mix von Strategien, die unkonventionelle Formen der Partizipation nutzt, um ein konkretes politisches Ziel zu erreichen: die Realisierung einer sozialen Transformation. Dieses politische Ziel ist in Spanien seit 2001 auf dem Radar der Öffentlichkeit. Den Anfang markierten dabei Kampagnen gegen die Weltbank in Barcelona und die spanische EU-Präsidentschaft der 15-M-Bewegung 2011 und 2012, wo Spannungen zwischen den Eliten und dem Global Justice Movement ans Tageslicht kamen. Laut Juan Carlos Monedero, einem der führenden Mitglieder von Podemos, ist und war Podemos zwar nicht die 15-M-Bewegung, aber parteipolitischer Ausdruck von deren Argumente.
Trotz des allgemeinen Konsenses in der Wissenschaft darüber, dass Podemos zu Beginn eine Bewegungspartei darstellte, bestehen Zweifel, ob diese Zuordnung nach Beginn des Prozesses ihrer Institutionalisierung noch zutreffend ist. Obwohl Podemos noch immer eine partizipative Partei ist, besteht die Möglichkeit, dass sie in den letzten Jahren denselben Prozess durchläuft, den Grüne-Parteien in den 1990er Jahren erlebten: einen schnellen „Prozess der Oligarchisierung”. Anders gesagt: Podemos durchläuft den so genannten Parteieninstitutionalisierungseffekt. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, inwieweit es einer Partei möglich ist, ihren partizipativen Charakter nach ihrer Konsolidierung zu bewahren. Parteien entwickeln sich und erfahren Veränderungen: Diese Entwicklungen finden nicht losgelöst vom äußeren Kontext statt: Die internen Charakteristika einer Partei werden von ihrer Geschichte beeinflusst, ebenso wie von der Art und Weise, wie die Partei gegründet und gefestigt wird. Aufgrund des instrumentellen Charakters der Organisation sind die Aufbauphasen politischer Parteien anfälliger für Veränderungen. Eine Partei ist ein Instrument, um bestimmte politische Ziele zu erreichen. Wenn die Partei folglich nicht in der Lage ist, jene Ziele zu erzielen, können die strukturellen Eigenschaften der Partei leicht geändert werden. Im Fall von Podemos bedeutet dies, dass die Tatsache, dass ihr Ursprung auf einem eher horizontalen und partizipativen Modell beruhte, nicht bedeutet, dass interne und externe Faktoren dies im Laufe der Jahre nicht ändern konnten.
Das „Wie“ und „Warum“ der Institutionalisierung
Der Einfluss der Institutionalisierung wird durch einen Transformationsprozess definiert, der den instrumentalen Charakter der Partei verändert. Im Laufe dieses Prozesses sinkt der Einfluss der „kleinen“ Parteimitglieder auf lokaler Ebene. Der Grund, warum Parteien wie Podemos solche Änderungen vornehmen, ist um ihre institutionelle Macht zu erhalten.
Es gibt vier wichtige Szenarien, die für das Verständnis des Prozesses der Institutionalisierung in Bezug auf Podemos wesentlich sind: Erstens die Europawahlen 2014, aus denen Podemos als Empowerment-Initiative und Methode der Selbstorganisation und der Einheit des Volkes hervorgegangen ist. Der zweite ist der konstituierende Prozess, der mit Vistalegre I im Oktober 2014 eingeleitet wurde. Vistalegre I begann den Prozess der Systematisierung und Schaffung einer Hierarchie innerhalb von Podemos, ein Zeichen der Institutionalisierung in politischen Parteien. Podemos begann, die extra-parlamentarischen Teile ihrer Organisation zu institutionalisieren, wodurch die «Los Circolos», die Basiseinheit der Partei, Einschränkungen erleiden mussten. Das dritte wichtige Szenario ist das Vistalegre II im Jahr 2017 bei dem interne Streitigkeiten innerhalb der Partei ans Tageslicht kamen, als Pablo Iglesias einen Vorschlag vorlegte, der weitere Einschränkungen der Mitgliedsbeteiligung vorsah und gleichzeitig einen neuen technokratischen und professionellen Apparat schaffen sollte. Schließlich spielten die Wahlniederlagen bei den Parlamentswahlen 2019 eine wichtige Rolle. Auch dies hatte Auswirkungen auf die Charakteristika der Parteiorganisation und führte zu Veränderungen. In dieser Hinsicht fanden eine Systematisierung des Kontaktes zwischen lokalen und unabhängigen Kreisen sowie eine Systematisierung der Partizipation in der Partei statt. Gleichzeitig kam es zu einer enormen Erhöhung der staatlichen Finanzierung von Podemos sowie zu einer Begrenzung der Gesamtbeteiligung der Mitglieder. Die Veränderungen von Podemos lassen sich nicht nur durch einen schnellen Prozess der politischen Institutionalisierung erklären, sondern auch durch externe Schocks, die Podemos betrafen. Der Fall Podemos zeigt, wie solche externen Schocks die Charakteristika von Parteien beeinflussen und Veränderungen in die eine oder andere Richtung bewirken können.
Der Einfluss sozialer Bewegungen auf politische Prozesse ist groß und wächst durch neue technologische Vernetzungsmöglichkeiten beständig weiter. Ob Hilfe für Geflüchtete, regionale Unabhängigkeitsbestrebungen oder die Hinterfragung des politischen Establishments – Die Ziele einer sozialen Bewegung sind immer auch definiert durch die Identität der Aktivist:innen und ihrer Bereitschaft, sich für die Bewegung zu engagieren.
Weitergehende Informationen:
Bürer, M.; Glorius, B.; Schneider, H.; Gasch, S. (2021): Handlungsorientierungen, Integrationspraktiken und Einstellungen zivilgesellschaftlicher Akteur*innen in ländlichen Räumen (Thünen Working Paper), Bd. 167, Braunschweig: Johann Heinrich von Thünen-Institut, DOI: 10.3220/WP1613480791000
Verweise
¹ Dalle Mulle, E. and Serrano, I. (2018): ‘Between a principled and a consequentialist logic: theory and practice of secession in Catalonia and Scotland’, Nations and Nationalism, DOI: 10.1111/nana.12412]
² Ivan Serrano (2013): Just a Matter of Identity? Support for Independence in Catalonia, Regional & Federal Studies, 23:5, 523-545, DOI:10.1080/13597566.2013.775945