Max Trostel, April 2021
Ulrich Brand ist Professor für Internationale Politik an der Universität Wien. Er hat zahlreiche Bücher und Artikel zu Themen wie Kapitalismus, Krisen, Globalisierung und Globaler Süden veröffentlicht. In seiner Keynote auf dem Workshop „managing crises from below“ sprach er über sein 2018 mit Markus Wissen veröffentlichtes Werk „The Imperial Mode of Living-Everyday Life and the Ecological Crisis of Capitalism“.
„The imperial mode of living“ (IML) ist ein Konzept, das versucht zu erklären weshalb der Kapitalismus so erfolgreich ist. Es setzt sich damit auseinander, wie der Kapitalismus das Verhalten der Menschheit dauerhaft verändert hat. Demnach prägt der Kreislauf von Konsum und dem damit gekoppelten sozialen Aufstieg die Lebensweise aller Konsument:innen. Menschen des Globalen Nordens leben auf Kosten der Ressourcen (Natur) und der Arbeitskraft aus anderen Regionen. Gefangen im System des Kapitalismus, sind wir gezwungen unser Leben ihm unterzuordnen. Dass die Krisen des 21. Jahrhunderts auch eine Folge der Wirtschaftspolitik des ungezügelten Wachstums ist, lässt sich nicht von der Hand weisen. Da das Krisenmanagement von Politiker:innen oft nicht ausreicht, formen sich soziale Bewegungen, um Problemlösungen zu finden oder die Politiker:innen unter Zugzwang zu setzen. Brand hat sein IML-Konzept in Bezug auf den Workshop „managing crises from below“ angepasst: Er unterstreicht, dass das Konzept von „the imperial mode of living“ im Blick behalten werden sollte, wenn über Krisenmanagement „from below“ gesprochen wird.
MANAGING | CRISES | FROM BELOW
Zum Workshoptitel „managing crises from below‘ merkt Ulrich Brand an, dass ein Titel kein Zufall ist, er soll die Quintessenz dessen sein was folgt. Deshalb ist es interessant sich zuerst mit der Semantik eines Titels auseinanderzusetzen. Beginnend mit from below, in Bezug auf soziale Bewegungen und die Zivilgesellschaft, ist es wichtig zu erwähnen, dass diese nicht immer emanzipatorisch oder progressiv sind. Zum Beispiel können wir in der Coronakrise die Anti-Corona-Bewegungen beobachten, die keine der genannten Merkmale für sich beanspruchen. Brand führt Antonio Gramsci1 an, der soziale Bewegung als Mechanismus oder als „site to struggle over hegemony“ beschreibt. Der bestehende Konsens über die Hegemonie ist Teil des Lebens. Er ist Teil des IML. Das Wort crises impliziert aber auch ein entsprechendes Gegenstück, die Lösung/en und wer diese Lösungswege vorgibt und umsetzt. Die dominierenden Akteur:innen kommen nicht von unten, sondern von oben! Krisen sind der Plural der Krise, es gibt nicht die eine Krise, es gibt mehrere: Umwelt-, Finanz-, Gesundheits- und weitere Krisen. Um sie zu verstehen, dürfen die Krisen jedoch nicht getrennt voneinander betrachtet werden, sondern sie müssen als ein ineinander verwobenes Konstrukt gesehen werden. Der letzte zu diskutierende Begriff ist managing. Im Englischen hat der Begriff zwei Kernbedeutungen, “succeed” und “control”2. Es geht einerseits um Krisenbewältigung, aber andererseits um Krisenkontrolle. Für Brand ist es ebenso etwas Strategisches: „to go from here to there“. Aber ist dies immer der Fall? Aus seiner Sicht könnte es auch ein Prozess sein, der an Struktur gewinnt, aber auch scheitern könnte.
THE IMPERIAL MODE OF LIVING
Um die anfangs gestellten Fragen zu beantworten, ist es wichtig, das Konzept von Ulrich Brand und Markus Wissen über „the imperial mode of living“ (IML) zu verstehen. IML ist die Folge des Kolonialismus, des Kapitalismus und des Neoliberalismus. Es basiert auf Machtverhältnissen zwischen den Menschen, die das Kapital haben und denen, die es nicht haben. Brand‘s und Wissen‘s (2018) IML-Konzept
‘aim[ing] to understand both the persistence and, at the same time, crisis-deepening patterns of production and consumption that are based on an – in principle – unlimited appropriation of the resources and labor capacity of both the global North and the global South and of a disproportionate claim to global sinks (like forests and oceans in the case of CO2)’. U. Brand3
Viele Menschen des Globalen Südens, die im Kapitalismus leben, sehen im „westlichen Lebenstil“ ein anzustrebendes Ziel an, welches erreicht werden muss. Es ist ein Konzept, das dermaßen attraktiv erscheint, dass jede:r Teil dessen sein möchte. Der Begriff „mode“ in IML ist bewusst im Singular gehalten, da jede:r, bewusst oder unbewusst in diesem Modus lebt: Wir sind abhängig davon, was der Kapitalismus uns vorschreibt. Wir müssen arbeiten, um für unseren Lebensunterhalt zu sorgen – um zu konsumieren. Ein Kreislauf aus dem auszubrechen schwierig ist. Ohne Geld zu leben ist fast unmöglich.
Was wir auch berücksichtigen müssen, ist, dass der IML äußerst exklusiv ist. Nach dem IML gibt es keinen trickle-down effect4, auch wenn neoliberale Ökonom:innen das immer wieder behaupten. Wenn der Globale Norden immer weiter (ökonomisch) wächst, wächst der Globale Süden nicht im gleichen Maße mit. Um diesen Effekt zu erklären, müssen wir uns ansehen, was Brand die „four „driving forces” – analytical dimensions to understand “lock-ins“ nennt.
DIE “LOCK-INS” OF THE IMPERIAL MODE OF LIVING
Zuerst müssen die vier treibenden Kräfte erklärt werden, um die „lock-ins“ zu verstehen. Der Kapitalismus kommodifiziert alles – alles ist eine Ressource. Und dieses Phänomen wächst täglich. Ein Schlüsselelement der Akkumulation ist die Reproduktion. Das Kapital reproduziert sich selbst, was wir am Finanzmarkt beobachten können und an der Expansion des Kapitals.
“The hegemonic character of the imperial mode of living must be understood, the subjectivation, the desire of ordinary people to have more. Or the lack of alternatives that in their material production they have to sell their labor force. […] The experience that via the IML, I can participate in this society, when I go to the supermarket, […] and so on.” (Ulrich Brand).3
„The imperial mode of living“ (IML) basiert auf der Reproduktion starker Ungleichheiten, es hierarchisiert u.a. zwischen unterschiedlichen Kategorien wie Geschlecht, race und Klasse. Intersektionalität (Überschneidung verschiedener Diskriminierungsformen bei einer Person, z.B. Frau und Schwarz) stellt dabei für die Betroffenen eine besondere Form von Hierarchisierung und Unterdrückung dar. Durch die Existenz von Hierarchien ergeben sich unterschiedliche Ausgangssituationen. Es spielt keine Rolle wo es passiert, im Globalen Norden oder im Globalen Süden, viele Menschen wollen aufsteigen und einen besseren Lebensstandard erreichen. Der soziale Status wird durch die zunehmende Fähigkeit zu konsumieren definiert.
Der letzte Punkt ist die Externalisierung. „Many aspects of pre-conditions and negative consequences take place “elsewhere”“3 oder werden in die Zukunft verschoben. Das bedeutet, dass Probleme wie die Klimakrise oder schlechte Arbeitsbedingungen von den dominierenden Akteur:innen ignoriert oder räumlich und zeitlich ausgelagert werden. Dies ist entscheidend, für das Verständnis von Kolonialismus, Kapitalismus, Neoliberalismus oder IML. Die vier „Lock-Ins“ stehen natürlich nicht einzeln, sondern sind eng miteinander verflochten und müssen als Ganzes verstanden werden. Was uns zum nächsten Aspekt bringt.
MANAGING CRISES FROM ABOVE ?
Soziale Bewegungen und zivilgesellschaftliche Initiativen wollen in der Regel den Staat und seine Institutionen erreichen, um ihrer Agenda mehr Gewicht zu verleihen. Oft kommen sie „from below“, um Teil des „above“ zu werden. Was beobachtet werden kann ist, dass Bewegungen oft beginnen, weil sie ein ungelöstes gesellschaftliches Problem erkennen, das bisher noch nicht oder nur unzureichend angegangen wurde. Sie nutzen ihre Plattform, um auf den Missstand aufmerksam zu machen. Damit fordern sie den Staat auf, eine angemessene Lösung /einen Rahmen zu finden, der das Problem nachhaltig angeht. Hier identifiziert Brand ein wichtiges Paradoxon. Er schreibt:
The “state / governance structures [are] part of stabilizing of contradictory societal relations’ but ‘at the same time, [they are the] strategic terrain of contest”. (Ulrich Brand)3
Der Staat versucht ein Problem zu lösen oder zu kontrollieren, dass er selbst mitverursacht hat. Durch Regulierung oder Deregulierung schafft er die Basis für eine Krise. Um eine langfristige Krisenbewältigung zu schaffen, müsste der Staat sich selbst verändern. In der Regel externalisiert er die Probleme jedoch nur und schafft damit kurzfristige Lösungen. Allerdings wird die Krise damit nicht bewältigt, sondern nur vorrübergehend verdrängt.
Was deutlich gemacht werden soll ist, dass der Staat selbst Teil des Problems ist. Um dies zu erklären, verweist Brand auf Antonio Gramsci5 und den Begriff „passive Revolution“. „Passive Revolution“ bedeutet eine Veränderung der Gesellschaft, ohne die Machtverhältnisse in Frage zu stellen. In der Finanzkrise 2008 beispielsweise wurden die Banken, vom Staat, mit staatlichen Mitteln gerettet. Aber für die Banken hat sich nicht wirklich etwas geändert. Ein weiterer Fall ist die Scheinheiligkeit der Politik in der Coronakrise. Erzieher:innen und Krankenpfleger:innen werden als „systemrelevante Arbeitnehmer:innen“ bezeichnet, an den Arbeitsbedingungen hat (wird) sich im Wesentlichen allerdings nichts geändert (ändern). Auch das Konzept von „Green Economy“ bedeutet zwar eine nachhaltigere Wirtschaft, lösen wird das den Kern des Problems dennoch nicht. Es ist eine Externalisierung der Probleme oder was Christos Zografos6 als „cost-shifting“, nach K. William Kapp7, bezeichnet. Zografos bevorzugt den Begriff „cost-shifting“: „[It] acknowledges the shift of generated cost to the periphery is internal to the operation of capitalism and is not an external side effect.” (Christos Zografos) 8 Die dominierenden Akteur:innen, der Staat oder das Großkapital, sind Teil eines komplexen Mechanismus, den Brand als IML bezeichnet und müssen daher stets kritisch hinterfragt werden.
WAS IST DIE KERNAUSSAGE?
Nachdem das Konzept von IML in der Verbindung zum Thema des Workshops diskutiert wurde, stellt sich die Frage: Was sollte in den Fokus der Betrachtung gestellt werden? Ich denke, das Schlüsselwort ist Kontextualisierung. Das Prinzip des IML sollte im Hinterkopf behalten werden, wenn wir über „managing crises from below“ sprechen. Es ist wichtig, Druck von unten aufzubauen, um auf Probleme hinzuweisen. Weiter müssen alternative Ansätze und verschiedene mögliche Lösungsansätze von unten in Betracht gezogen werden. Denn wie Ulrich Brand anführt, werden weder der „green capitalism“ noch eine „passive Revolution“ die Probleme von heute noch die von morgen lösen.
Weiterführende Literatur:
Ulrich Brand, Markus Wissen, The Imperial Mode of Living: Everyday Life and the Ecological Crisis of Capitalism, London/New York 2021
George Lipsitz, The Struggle for Hegemony, in: The Journal of American History, Vol. 75, No. 1 (Jun., 1988), Oxford University Press, pp. 146-150
K. William Kapp, The Social Costs of Private Enterprise, New York, 1975, URL: http://www.kwilliam-kapp.de/documents/SCOPE.pdf
Verweise
1 Antonio Gramsci war ein Schriftsteller, Journalist, Politiker und marxistischer Philosoph https://www.jstor.org/stable/1889660?seq=1 , 30.01.2021
2 Cambridge Dicionary, https://dictionary.cambridge.org/de/worterbuch/englisch/managing, 28.02.2021
3 Ulrich Brand, Workshop „managing crises from below? civil socity iniciatives and social movements in the context of the current crises in Europe”, 11.12.2020
4 Der Begriff Trickle-down-Theorie bezeichnet den Glauben, dass Wirtschaftswachstum und allgemeiner Wohlstand der Reichen nach und nach durch deren Konsum und Investitionen in die unteren Schichten der Gesellschaft durchsickern würden. (https://de.wikipedia.org/wiki/Trickle-down-Theorie, 08.02.2021)
5 Gramsci, Antonio; Forgacs, David (1988). An Antonio Gramsci Reader: Selected Writings, 1916-1935. New York: Schocken.
6 Christos Zografos ist ein Umwelt & Sozialwissenschaftler Er koordiniert derzeit das „European Network of Political Ecology“ Projekt. Desweiteren ist er Gastdozent für Masterstudiengänge an der University of Edinburgh (UK) und der Masaryk University (Tschechische Republik). https://ictaweb.uab.cat/personal_detail.php?id=198 , 30.01.2021.
7 Karl William Kapp war ein deutscher Nationalökonom und begründete mit seinem Hauptwerk Soziale Kosten der Marktwirtschaft eine politische Ökonomie der Umwelt https://de.wikipedia.org/wiki/Karl_William_Kapp, 11.02.2021
8 Christos Zografos, Workshop „managing crises from below? civil socity iniciatives and social movements in the context of the current crises in Europe”, 11.12.2020