Ein Interview mit sozialen Bewegungsforscher Dr. Piotr Kocyba
Im Zuge unserer Arbeit zu dem Thema „Räumliche Orte als Kristallisationspunkte der Klimabewegung“ haben wir ein Interview mit Dr. Piotr Kocyba geführt. Er ist u.a. als wissenschaftlicher Mitarbeiter der Technischen Universität Chemnitz an der Professur für Kultur- und Länderstudien Ostmitteleuropas tätig und forscht zu ausgewählten Straßenprotesten.
Till Saremba, 28.01.2022
Till Saremba (S): Hallo Herr Kocyba, wir sind auf sie gestoßen, da sie soziale Bewegungsforschung an der TU Chemnitz betreiben und bereits in einigen Berichten über Fridays for Future geforscht haben. Können Sie uns vielleicht einen kurzen Einblick in ihre eigene Forschung geben? Auch bezüglich ihrer eigenen Schwerpunktsetzung innerhalb der Klimabewegung?
Herr Kocyba (K): Ich bin zu Fridays for Future gekommen, weil ich gerade ein Projekt habe, in dem ich Proteste befrage und zufällig kam Fridays for Future (FFF) unterwegs dazu. Ich habe mittlerweile mehrere solcher Proteste befragt. Das waren 2019 zwei in Warschau, zweimal habe ich in Wien geholfen und dann habe ich im Rahmen von einem losen Netzwerk auch anderen Kolleginnen und Kollegen weltweit geholfen für diese Protestforschungsmethode zu rekrutieren. Und dann kam die Pandemie dazwischen und wir haben erst wieder im September letzten Jahres, also 2021, einen FFF Protest befragt. D.h. was ich gemacht habe, war weniger mich breit mit FFF zu beschäftigen oder mit der Umweltbewegung, sondern ganz konkret mit ausgewählten Straßenprotesten.
S: Wir haben uns konkret gerade Besetzungen angesehen, wie den Hambacher Forst („Hambi“), den Dannenröder Forst („Danni“) und das Dorf Lützerath. Dabei haben wir die These aufgestellt, dass die Klimabewegung immer weiter zentral an Orten zusammenläuft. Wir haben diese als „räumliche Kristallisationspunkte“ benannt. Unserer Meinung nach ist nach 2018 der Hambacher Forst, 2020 der Dannenröder Forst und heute Lützerath so ein Ort. Dabei ist die Idee, dass an diesen zentralen Punkten viele Aktivist:innen zusammenkommen. In diesem Fall sind das Orte des radikalen Protests, wo Wälder besetzt werden, wo Grundstücke und Häuser besetzt werden und so zentrale Punkte entstehen, wo Menschen hin mobilisiert werden und in die Bewegung hineinwirken können und somit diese weiter und diverser aufbauen. Als Folge des Dannenröder Forsts sind zum Beispiel viele weitere Waldbesetzungen im nächsten Jahr entstanden. Die Idee dahinter bezieht sich also auf den idealtypischen Verlauf von Bewegungen, die an einem Punkt, wenn die Forderungen nicht durchgesetzt werden, entweder institutionalisiert oder radikalisiert werden.
K: Ich würde erstmal mit dem Begriff der Radikalität aufpassen. Wir sind vor allem in Bundesländern wie Sachsen sehr schnell dabei von Radikalität beispielsweise bei der Klimabewegung zu sprechen. Ich weiß, dass Sie das wahrscheinlich anders meinen, ich komme ein bisschen stärker aus der Forschung zu rechten Aktivismus und ich habe innerlich immer ein Problem damit, wenn ich beispielsweise über Herrn Kohlmann spreche und ihn als Radikalen darstelle, dann bei einer Aktion wie der Besetzung vom Hambacher Forst von Radikalen zu sprechen. Das ist wie diese Unterscheidung in konventionelle und unkonventionelle Partizipation. Also konventionell ist Parteimitgliedschaft oder das Abstimmen an den Urnen. Und unkonventionell sei es dann quasi diese eingefahrenen konventionellen Wege zu verlassen beispielsweise Protest zu organisieren auf den Straßen oder online. Und heutzutage von unkonventionell zu sprechen ist auch ein bisschen schwierig, weil mittlerweile Protest so alltäglich und normal geworden ist, dass ich mir nicht mehr ganz sicher bin, ob man von unkonventionellen politischen Partizipationswegen sprechen kann. Das andere ist: ist es nicht eigentlich etwas absolut Typisches für die Klimabewegung oder für die Umweltbewegung in der bundesdeutschen Geschichte, dass man durch bestimmte Ortschaften mobilisiert hat? Das hat schon mit der Anti AKW (Anm.: Atomkraftwerk) Bewegung begonnen. Man hat dort, wo Endlager geplant waren solche Kulminationspunkte gefunden, eben weil es räumliche Orte sind, um die man streitet. Also der Hambacher Forst ist zum Beispiel deswegen besetzt worden, weil er sonst abgeholzt worden wäre.
S: Da Sie sagen, dass es sowas schon länger gibt: welche Bedeutung haben solche Orte für die Bewegung? Also was hat denn Gorleben zum Beispiel für eine Bedeutung für die Anti AKW Bewegung gehabt?
K: Ich glaube, dass es natürlich für die Umwelt- bzw. Klimabewegung sehr zentral ist. Weil es Kulminationspunkte sind, an denen sich ideologisch der Kampf austragen lässt, da es direkt verortet ist – es wird ja sonst abgebaggert oder abgeholzt, wenn man nicht protestiert. Aber auch da es Protestformen sind, die das Leben von Aktivist:innen zusammenbringen, wenn ein Wald oder Haus besetzt wird und da länger zusammen gewohnt wird. Dann werden natürlich auch Ressourcen benötigt wie Wissen, Identitätsbildung und Bildung von symbolischen Bildern, die man dann in die Bewegung hineintragen kann. Also Speerspitzen eines größeren Ganzen. Diese Dinge bringen die Bewegungen auf jeden Fall ein Stück weiter, weil sie dazu zwingen sich mit den Themen intensiv zu beschäftigen. Sie sagen radikal, meinetwegen, dann auch mit einer radikalen Art und Weise. Da gibt es einen Vergleich zu einem Tal in Polen das vor vielen Jahren in der ersten PiS (Prawo i Sprawiedliwość – politische Partei) Regierung einer Autobahn oder einer Ortsumgehung weichen sollte. Die polnische Umweltbewegung, die viel schwächer ist als die Deutsche aus vielerlei Gründen, hat dort auch so eine Art Kulminationspunkt erfahren. Weil man dort auch besetzt und sich gewehrt hat. Und das sind dann ganz wichtige Lernprozesse auch für die Aktivist:innen, weil sie bspw. gemerkt haben, dass die einheimische Bevölkerung zunächst einmal überhaupt nicht auf ihrer Seite war. Dadurch haben sie gelernt, dass sie aus einer meist Großstädtischen und besser gestellten Perspektive heraus argumentiert haben. In der Art wie: „Das ist ein Naturschutzerbe, das ist auch von der Europäischen Union geschützt und da gibt es seltene Tierarten etc.“. Bei dem Protestcamp kamen dann die Anwohner:innen mit ihren Kindern und haben sich beschwert: „Ja und bei uns durch die Ortschaft fahren täglich viele hundert LKWs, da gibt es erstens die Abgase, die meine Kinder einatmen müssen, zweitens kann ich mein Kind nicht alleine auf die Straße lassen, weil das sonst vielleicht von LKWs überrollt wird“. Da sind auf einmal Welten zusammengestoßen. Und das war, soweit ich das verfolgt habe, ein großes Thema für die polnische Umweltbewegung, weil ihr klargeworden ist, dass sie in einer absoluten Blase und Parallelwelt gelebt hat. Dass sie mit ihren Claims, die ja durchaus richtig und wichtig sind, durch das Framing aber absolut marginal sind. Einfach weil sie so framed, dass es nicht in den polnischen kulturellen Kontext hineinpasst.
Jetzt kenne ich den Danni nicht, aber ich könnte mir zum Beispiel so etwas Ähnliches vorstellen, wenn es ein Protestcamp irgendwo in Sachsen beim Tagebau geben würde. Da könnte ich mir vorstellen, dass die einheimische Bevölkerung sich erst einmal denken würde: „Was wollen die?“ Außer die Personen, die ihr Hab und Gut verlieren und nicht aufgeben wollen. D.h., dass solche Dinge von ganz schön großer Tragweite sind, weil sie Momente sind, in denen man sich intensiv mit dem Thema auseinandersetzen muss. Es kann eben nicht abgewartet und aufs nächste Jahr verschoben werden, da es dann im Zweifel schon abgeholzt bzw. abgebaggert ist.
Es gibt dann genug Menschen, sei es eine Handvoll oder auch dutzende, die ihr Leben radikal (lacht) dem ganzen Widmen. Aber es gibt ja auch andere Aktionsformen, die in die Richtung gehen. FFF hat, wenn ich das richtig verfolgt habe, vor allem während der Pandemie und der Lockdowns, als Proteste entweder nicht möglich oder nicht zu verantworten waren, sich sehr häufig online für Klimacamps getroffen und versucht so ein Brainstorming zu betreiben. Ein bisschen über die eigene Strategie nachzudenken. Also dieses ganze Institutionalisieren einer Bewegung betrieben: Struktur finden, sich zurechtlegen, was man eigentlich für eine Message für die Öffentlichkeit hat usw. Das heißt es müssen nicht nur räumliche Orte sein, aber es gibt immer wieder eben wichtige Momente für Bewegungen in denen intellektuelles Potential gebaut und Ressourcen generiert werden. Dadurch das auch neue Aktivist:innen gewonnen werden oder Aktivist:innen, die vorher nicht so sehr involviert waren auf einmal ihr Leben für ein paar Jahre radikal diesem Ziel zur Verfügung stellen.
S: Wir sehen die Klimagerechtigkeitsbewegung gerade an einem Kritischen Punkt. Die aktuelle Klimapolitik Deutschlands deckt sich nicht ansatzweise mit den Zielen von FFF oder anderen klimatischen Gruppen. Da man auch schon ewig auf der Straße ist, wollten wir noch nach ihrer Meinung als Protestforscher fragen: Was denken Sie, wie geht es denn jetzt weiter mit der Bewegung?
K: Ich glaube, dass ist extrem schwer vorherzusagen, weil wir u.a. noch gar nicht wissen wie lange wir noch mit der Pandemie beschäftigt sein werden. FFF hatte unglaublich Pech, dass diese große Mobilisierung international durch die Pandemie quasi zum Erliegen gebracht wurde, zumindest auf den Straßen. Ich könnte mir aber vorstellen, dass, sobald die Welt sich wieder ein bisschen normalisiert hat, das Thema nicht weg sein wird. Es wird Gesellschaften geben, wo das Thema weniger wichtig sein wird, weil sie weniger gut durch die Pandemie gekommen sind als andere vor allem ökonomisch. Denn Umweltschutz ist auch eine Frage der Ressourcen. Es ist kein Wunder, dass Menschen, die besser gebildet sind und besser verdienen mehr Zeit und Ressourcen und Geld investieren für Produkte oder um sich weiter zu informieren über das Thema, als solche die das nicht sind. Das hat auch mit Sozialkapital zu tun. Das klingt jetzt ziemlich brutal, aber ich glaube das ist so. In Gesellschaften wie beispielsweise der polnischen Gesellschaft könnte ich mir vorstellen, dass das Thema sowieso schon vorher nicht so stark war wie in Deutschland, aber das es erstmal noch länger leiden wird unter der Pandemie. In Deutschland sieht das ein bisschen anders aus. Deutschland ist eine wohlhabende Gesellschaft, wir haben jetzt auch die Grünen an der Macht. Das heißt das Thema wird zurückkommen. Die Frage ist natürlich, ob das weiterhin Schüler:innen mobilisieren wird. Ich könnte mir das auch gut vorstellen, nur glaube ich, dass es auch eine zunehmende Polarisierung geben wird in dem Kontext, weil das in den deutschen Medien noch gar nicht so ein großes Thema ist. Aber was wir jetzt mit der immensen Inflationsrate beobachten, wird andernorts viel stärker unter anderem mit dem Emissionshandel in Zusammenhang gebracht als in Deutschland. Das Argument ist, dass alles viel teurer wird wegen der teureren Energieträgerkosten. Und die werden auch mitberechnet, weil wir quasi dafür noch extra bezahlen müssen wegen der CO2 Steuer.
Das heißt Personen, die sich distanziert bis kritisch gegenüber beispielsweise FFF gefühlt haben, werden ein neues Argument haben, um weiter in die Gesellschaft hineinzuwirken. Das ist ein Argument, das verfänglich ist. Ich wohne beispielsweise in Budapest, alle hier heizen mit Gas – für die ist es wirklich ein ökonomisches Problem zweimal oder dreimal so viel monatlich für Heizungskosten zahlen zu müssen. Und zusätzlich kommt ja hinzu, dass diese ganzen Coronaprotestierenden, oftmals Personen sind die (nicht immer) Verschwörungsnarrativen anhängen. Und es gibt ganz eindeutige Zahlen aus Bevölkerungsumfragen, dass wenn man jetzt glaubt, dass Bill Gates uns Chips implantiert, um die Menschheit zu dezimieren, dann glaubt man auch sehr wahrscheinlich an Verschwörungsnarrative im Kontext des Klimawandels. Das heißt es wird eine größere Polarisierung geben, die im Endeffekt FFF vielleicht auch helfen kann, weil das Thema noch stärker politisiert und im öffentlichen Raum umkämpft wird. Also, dass sind so die Rahmenbedingungen, von denen ich spreche.
Aber wieso protestiert man? Man protestiert nicht nur weil man bessergestellt ist, sondern weil man Wut hat, etwas verändern möchte und weil man glaubt, dass der Protest auch eine Wirkung hat. Und ich glaube, jetzt mit einer Bundesregierung, an der auch die Grünen beteiligt sind und nicht weniger bekannte FFF Aktivist:innen mittlerweile Mitglied in der Partei sind – die Enttäuschung wird groß sein. Weil nicht das geliefert wird, was man sich erhofft. Weil es zu radikal ist (lacht) für den Mainstream. Die Wut wird also wieder da sein und die Wut erinnert daran, dass man durch seine Proteste sehr viel öffentlichen Druck generiert hat. Also ich rede jetzt von Deutschland.
Wenn man also diese beiden Dinge zusammennimmt, glaube ich schon, dass das Mobilisierungspotenzial wieder sehr stark zu beobachten sein wird. Ob das wieder daran anknüpfen wird, was 2019 losgegangen ist, das ist glaube ich schwer vorher zu sehen, aber FFF wird nicht weg sein und ich glaube, FFF wird weiterhin ein ziemlich wichtiger Protestakteur auf den deutschen Straßen sein.
S: Glauben Sie, dass auch andere Aktionsformen weiterverbreitet sein werden? Oder wird es nur den Straßenprotest weiterhin in dieser großen Form geben?
K: Meiner Meinung nach war das Erfolgsmodell von FFF der Schulstreik. Und unsere Befragungen haben gezeigt, dass das besonders in der frühen Phase in Deutschland, durchweg durch alle Erhebungsquellen, auch 2021 noch, sehr junge Demonstrierende gewesen sind. Vielleicht bin ich auch vorurteilsbeladen der Jugend gegenüber, als alter weißer Mann (lacht), aber ich kann mir schwer vorstellen, dass irgendwelche ernsthaften Auseinandersetzungen auch mit der Polizei – und das geht ja immer mit Blockaden einher – von FFF Klimastreiks ausgehen könnten. Das sieht man häufig, wenn die Polizei die Corona-Proteste auflöst oder auflösen möchte. Man merkt, dass Leute, die vorher noch nicht auf Protesten unterwegs waren, und vor allem keine Erfahrungen haben im Umgang mit der Polizei, sehr überrascht sind, wenn sie sagt: „So, jetzt ist Schluss“. Wenn man so ein bisschen linker ist, dann kennt man das vielleicht, dass wenn die Polizei sagt: „Jetzt ist Schluss, jetzt gehen Sie alle nach Hause“ und man nicht nach Hause geht, dass es dann auch mal derb zur Sache gehen kann. Im Sinne von umgeschubst, weggeschubst oder die Personalien aufgeschrieben werden. Und man sieht, dass auch ältere Personen dann völlig perplex sind, dass sie von der Polizei auch entsprechend behandelt werden. Das mag jetzt für manche, die den Coronaleugnern nichts Gutes wünschen eine befriedigende Bildberichterstattung sein, aber sie ist fatal in den Folgen, weil die Menschen dann die Staatsgewalt hier auch physisch erleben und sich darin bestätigt fühlen Opfer dieser zu sein. Aber das ist ein ganz anderes Thema. Und diese Bilder kann ich mir schwer bei FFF vorstellen, zumal ich in Erinnerung habe, dass es so eine Art ungeplante Arbeitsteilung gab zwischen Extinction Rebellion und FFF. Wenn man jetzt nur diese neu entstandenen Fraktionen in der großen Klimabewegung betrachtet, da hat Extinction Rebellion dann auch schon mal Straßen blockiert. Das waren meistens auch Leute, die ein paar Jahre älter waren und Studierende. Ob das jetzt wieder so kommt, das ist schwer vorher zu sehen. Aber wenn FFF wieder das machen würde, was es vorher gemacht hat, nur eben institutionalisierter, ein bisschen strukturierter, ein bisschen professioneller im Sinne, dass man ein paar Jahre Zeit hatte, um sich mit Themen auseinanderzusetzen und sich auch mal herzlich zu streiten über Forderungen etc., dann würde es, glaube ich, sehr naheliegend sein. Zumal man in Erinnerung hat das man erfolgreich insofern war, als dass man für sehr viel öffentliche Aufmerksamkeit gesorgt hat und auf die Politik auch wirklich ordentlich Druck ausgeübt hat. Und ich hatte den Eindruck, dass FFF vor der Pandemie die Politik auch ein bisschen vor sich hingetrieben hat. Dann hat die Merkel-Regierung ein bisschen was gemacht und wenn es nicht genug war, dann war man wieder auf der Straße. Das heißt, ich glaube schon, dass es eine Erfolgsgeschichte ist, und ich könnte mir vorstellen, dass man an Erfolge wieder anknüpft.
S: Vielen Dank für Ihre Zeit, das wären alle unseren Fragen.