Soziale Bewegungen

Vom Individuum zum Globalen und wieder zurück 

Johannes Moosbühler und Johanna Arfsten, März 2021

Von einem Zusammenschluss vieler Individuen zu einer globalen sozialen Bewegung, die gesellschaftliche Strukturen transformiert. Laut Bewegungsforschung nehmen soziale Bewegungen als politische Akteure immer mehr Einfluss auf die globale Politik. 

Ursprünge sozialer Bewegungen und Bewegungsforschung

Bei einer historischen Betrachtung der sozialen Bewegungsforschung führt deren Ursprung hauptsächlich auf zwei Quellen zurück.¹ Ein Strang ist die von Karl Marx (1818-1883) und Friedrich Engels (1820-1895) entworfene soziale Evolutionstheorie, laut der gesellschaftliche Entwicklungen durch Klassenkämpfe provoziert werden. Durch akkumulierte strukturelle Spannungen in den Produktionsverhältnissen (z.B. Arbeitnehmer:innen vs. Arbeitgeber:innen) entstehen revolutionäre Bewegungen. Diese führen durch radikale Umbruche herbei, die die Gesellschaft auf ein höheres Entwicklungsniveau heben können.
Als ein Beispiel kann die Einführung der Sozialgesetze (Krankenversicherung (1883); Unfallversicherungsgesetz (1884); Invaliditäts- und Altersversicherungsgesetzt (1889)) unter Otto Eduard Leopold von Bismarck-Schönhausen (1815-1898) aufgeführt werden. Die Ausbeutung der Arbeiter:innen in vielen Industriebetrieben zu dieser Zeit verursachte soziale Unruhen, die zu sinkender Zustimmung zu der Politik von Bismarck führten. Daraufhin führte dieser die Sozialgesetze ein. Die Einführung diente jedoch nur dem Kalkül, die Arbeiter:innenklasse für den Obrigkeitsstaat zu gewinnen, d.h. weitere sozialdemokratische Bestrebungen der Arbeiter:innenbewegung möglichst einzudämmen. In anderen Worten: Arbeitnehmer:innen mit Rentenanspruch taugen nicht zur Revolution.²

Der zweite Strang führt zur Massenpsychologie von Gustave Le Bon (1841-1931) zurück. Für Le Bon wird das Verhalten des Individuums innerhalb einer sozialen Masse beeinflusst.
Das Verhalten des Einzelnen in einer sozialen Masse ist hierbei nicht mehr als „rational“ zu erklären. Durch Suggestionen, Ansteckungsphänomen und hypnotische Effekte gibt das Individuum seine Selbstkontrolle auf und verliert sich im Strom des Massenverhaltens, aus dem es kein Entrinnen mehr gibt.³  Darauf aufbauend folgte die „Theorie der Massengesellschaft”⁴, die die Zuflucht des Individuums in die Massen aufgrund der Auflösung sozialer Bindungen sah. Vor allem William Kornhauser (1925 – 2004) aus der Chicago School prägte die Theorie der Massengesellschaft.⁵ Aus den massenpsychologischen Erklärungsansätzen heraus galten Protestbewegungen deshalb lange Zeit als irrational und dysfunktional, da sie die Massen zu spalten und die Zuflucht [Rettung] in die Massen zu verhindern schienen.⁶

“Vom irrationalen zum rationalen Protestakteur” 

In den 1970er Jahren fand in der sozialen Bewegungsforschung in den USA, wo ein starker Bezug auf massenpsychologische Ansätze vorherrschte, ein Paradigmenwechsel statt. Protestbewegungen entstanden demnach, wo die Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit zu groß war, d.h. zum Beispiel wo gesellschaftliche Institutionen aufgrund ökonomischer oder politischer Krisen nicht mehr ausreichend funktionierten. Protestbewegungen und ihre angenommene „Irrationalität“ wurde in Frage gestellt, d.h. die strikte Trennung zwischen institutionellem, kollektivem Verhalten und unstrukturierten, irrationalen Bewegungen als Phänomen wurde angezweifelt. Als Alternative trat die Ressourcenmobilisierungstheorie (1960er) von McCarty und Zald in den Vordergrund. ⁸  Dabei wurden Protestakteure erstmals als rational handelnde Individuen und Kollektive wahrgenommen, die Ressourcen zielgerichtet einsetzten und sich ebenfalls strukturieren. Der Fokus richtete sich auf die  Analyse von Protestereignissen und Protestwellen. Die dabei entstandene Streitpolitik konzentriert sich auf die Analyse dynamischer Mechanismen und Prozesse, die den Verlauf und die Wirkung von Protestwellen untersucht. ⁹  Hierbei wird versucht, die Unterschiede, Gemeinsamkeiten und Übergange zwischen sozialen Bewegungen und anderen Ausdrucksformen von sozialen Protesten herauszuarbeiten. ¹⁰

Demgegenüber war die europäische soziale Bewegungsforschung, stärker vom marxistischen Denken beeinflusst. Sie setzte ihren Fokus auf die Deutung der sogenannten „neuen sozialen Bewegung“ (1970er) wie der Ökologie,- Friedens- und neuen Frauenbewegung. Dabei wurden diese Protestbewegungen als Ausdruck eines tiefer liegenden gesellschaftlichen Strukturwandels interpretiert, die z.B. auf strukturellen Spannungen in der Gesellschaft und in sozialen Klassenkonflikten beruhten.¹¹

Gegenwärtig gewinnen Protestbewegungen nicht nur auf nationaler gesellschaftlicher Ebene an Präsenz. Vor allem aus progressiven Kreisen ist mittlerweile eine einflussreiche globalkritische Protestbewegung entstanden, deren historischen Ursprung u.a. in der Ökologie-, Frauen- und Friedensbewegung der 1980er Jahre liegt. Sie kritisiert an supranationalen Organisationen wie den Weltwährungsfond, der Weltbank oder der Welthandelsorganisation die politische Ausrichtung an ökonomischer Deregulierung. ¹²

Durch den die Bewegungsforschung bis heute stark beeinflussten Ressourcenmobilisierungsansatz von McCarty und Zald ¹³  hat sich die Annahme durchgesetzt, dass die „Protestbewegungen nicht mehr als eine aggressive Masse wahrgenommen [werden], die sich ziellos treibend gegen die herrschende Ordnung richten, sondern als größtenteils wohl organisiertes Unternehmen, dass eine rationale Umgestaltung der Gesellschaft anstrebt”.  ¹⁴

Globale soziale Bewegungen

Mit zunehmender Globalisierung ist ebenso ein wachsendes Bewusstsein der globalen Bevölkerung für Interdependenzen nicht nur zwischen Nationalstaaten, sondern auch zwischen Individuen und der globalen Gesellschaft erkennbar: gemeinsame globale Narrative geraten immer mehr in das Blickfeld. ¹⁵

Effekte der Globalisierung wie vereinfachte Reisemöglichkeiten, Auslandsaufenthalte, Fremdsprachenkenntnisse und Jobs bei im Ausland tätiger Organisationen sowie soziale Medien verstärken die Entstehung eines kosmopolitischen Bewusstseins.¹⁶

Die zunehmende Internationalisierung wirkt sich auch auf soziale Bewegungen aus: Aktivist:innen aus verschiedenen Teilen der Welt organisieren sich und bilden transnationale Netzwerke. So sind die Anliegen nicht mehr nur lokal begrenzt, sondern stattdessen werden zunehmend globale Thematiken fokussiert. Nationalstaaten als zentrale Regulierungsinstanzen verlieren erheblich an Bedeutung. Weit über nationale Grenzen hinaus wirkende Kampagnen und Proteste werden erst durch das Bestehen international aufgebauter Netzwerke ermöglicht. ¹⁷ Ein globales Framing, also ein gemeinsamer Bezugsrahmen, ist für heterogen zusammengesetzte Bewegungen wesentlich für den Zusammenhalt. Somit können die Bewegungen große Reichweite erzeugen: weltweit können Menschen mobilisiert und Institutionen auf verschiedenen Ebenen adressiert werden, von lokalen Entscheidungsträger:innen bis hin zu Organen internationaler Verbände. ¹⁸  Ein Beispiel einer solchen globalen Bewegung, bei der die verschiedenen Mechanismen gut sichtbar sind, ist die Fridays for Future Bewegung.

Der Anstieg grenzüberschreitender Probleme, wie die Klimakrise, Fluchtbewegungen und soziale Ungleichheiten rücken transnationale Themen und die gemeinsame Bekämpfung immer mehr in den Mittelpunkt und bieten somit einen guten Nährboden für globale soziale Bewegungen. Globale Proteste setzen dabei oft an den strukturellen Ursachen von Problemen an und werfen somit grundsätzliche Fragen der Verteilung ökonomischer und politischer Macht auf. ¹⁹

Dass sich immer mehr Bürger:innen über Ländergrenzen hinweg zu einer großen Bewegung zusammenschließen, birgt ein großes Potenzial: Globale soziale Bewegungen werden zunehmend zu treibenden Kräften, die die Macht haben, globale Regierungsführungen zu beeinflussen und gesellschaftliche Diskurse zu initiieren. ²⁰

Quellen

1 Kern, Thomas. Soziale Bewegungen: Ursachen, Wirkung, Mechanismen. Wiesbaden:        Springer-Verlag, 2007, S. 9.

2 Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg: Frech, Siegried. Das Sozialstaatsprinzip. Ostfildern-Ruit: 2019, S. 50f.

3 Kern, Thomas. Soziale Bewegungen: Ursachen, Wirkung, Mechanismen. Wiesbaden: Springer-Verlag, 2007, S. 10.

4 Schulze, Rorert O. The Canadian Journal of Economics and Political Science / Revue    Canadienne D’Economique Et De Science Politique, vol. 26, no. 4, 1960, pp. 644–646. JSTOR, www.jstor.org/stable/138943. Accessed 14 Feb. 2021. und: Buechler, Steven. Mass    society theory. Blackwell Publishing Ltd: 2013, S.1f

5 Kern, Thomas. Soziale Bewegungen: Ursachen, Wirkung, Mechanismen. Wiesbaden: Springer-Verlag, 2007, S. 10.

6 Kern, Thomas. Soziale Bewegungen: Ursachen, Wirkung, Mechanismen. Wiesbaden: Springer-Verlag, 2007, S. 10.

Kern, Thomas. Soziale Bewegungen: Ursachen, Wirkung, Mechanismen. Wiesbaden: Springer-Verlag, 2007, S. 122.

Craig, Jenkins, und Craig, Eckert. „Channeling Black Insurgency: Elite Patronage and Professional Social Movement Organizations in the Development of the Black Movement. “American Sociological Review , 1986: S. 812.

9 Kern, Thomas. Soziale Bewegungen: Ursachen, Wirkung, Mechanismen. Wiesbaden: Springer-Verlag, 2007, S. 112.

10 Kern, Thomas. Soziale Bewegungen: Ursachen, Wirkung, Mechanismen. Wiesbaden: Springer-Verlag, 2007, S. 112.

11 Ebd., S. 11f.

12 Kern, Thomas. Soziale Bewegungen: Ursachen, Wirkung, Mechanismen. Wiesbaden: Springer-Verlag, 2007, S. 100ff.

13 McCarthy, John und Zald, Mayer. Resource Mobilization Theory: Vigorous or Outmoded?, in: Turner, Jonathan H. (2001, Hrsg.): Handbook of Sociological Theory. New York: Springer. S. 535.

14 Kern, Thomas. Soziale Bewegungen: Ursachen, Wirkung, Mechanismen. Wiesbaden: Springer-Verlag, 2007, S. 122.

15 Laux, Thomas (2020): What makes a global movement? Analyzing the conditions for a strong participation in the climate strike. Im Rahmen des Workshops „Managing crises from below? Civil society initiatives and social movements in the context of the current crises in Europe“, 11.12.2020.

16 Rucht, Dieter; Neidhardt, Friedhelm (2020): Soziale Bewegungen und kollektive Aktionen, in: Hans Joas, Steffen Mau (Hg.), Lehrbuch der Soziologie, Frankfurt am Main 2020, S.851.

17 Della Porta, Donnatella (2019): Global Movements. in The Oxford Handbook of Global Studies. hrsg.v. Juergensmeyer, Mark,Saskia Sassen and Manfred B. Steger, S. 715-729. New York: Oxford University Press. S. 716.

18 Rucht, Dieter; Neidhardt, Friedhelm (2020): Soziale Bewegungen und kollektive Aktionen, in: Hans Joas, Steffen Mau (Hg.), Lehrbuch der Soziologie, Frankfurt am Main 2020, S.855.

19 Ebd., S.850.

20 Laux, Thomas (2020): What makes a global movement? Analyzing the conditions for a strong participation in the climate strike. Im Rahmen des Workshops „Managing crises from below? Civil society initiatives and social movements in the context of the current crises in Europe“, 11.12.2020.

Video created by Sydney Brown: https://www.youtube.com/watch?v=y7YPTD7QwR4