Decolonizando (Lissabon, Portugal)

Antirassistische und dekoloniale Interventionen
gegen die Statue von Pater António Vieira in Lissabon

Autorschaft: Johanna Beste und Luca Hirsekorn
Aktivistische Gruppe: Decolonizando
Statue / Monument: Statue von Pater António Vieira in Lissabon
Ort (Stadt, Land): Lissabon, Portugal

Statue António Vieiras in Lissabon

Ein Land, in dem die Kolonialgeschichte noch nicht sehr lange zurück liegt, ist Portugal. In der Diktatur des Estado Novo unter Antonio Salazar wurde stark an den Kolonien, später auch „Überseegebiete“ genannt, festgehalten. Sie wurden durch den portugiesischen Kolonialkrieg aufrechterhalten (TU Chemnitz, Portugiesische Erinnerungskulturen, 2006). Erst im Zuge der Nelkenrevolution 1974, durch die Salazars Regime gestürzt wurde, konnten Länder wie Guinea-Bissau oder Angola Mitte der 1970er Jahre die eigene Unabhängigkeit erklären, also viel später als die meisten früher kolonisierten Länder in Afrika, die diesen Status zum größten Teil in den 1960er Jahren ablegten. Durch die historische Nähe ist es besonders interessant zu untersuchen, wie in Portugal mit dem kolonialen Erbe umgegangen wird, welche Perspektiven verbreitet sind und wie dort heute Erinnerungskultur betrieben wird.
Ein Beispiel dafür ist die Statue von Padre António Vieira auf dem Platz Largo Trinidade Coelho in Lissabon. Die in der Stadt sehr zentral aufgestellte Skulptur zeigt den Jesuitenpriester in seinem Gewand, der mit ausgestrecktem Arm ein Kreuz vor sich hält. Zu seinen Füßen befinden sich drei südamerikanische, indigene Kinder; halbnackt und in traditioneller Kleidung. Sie knien und stehen vor dem Priester, als würden sie Schutz unter ihm suchen. Hier ist bereits ein Machtgefälle erkennbar, Vieira wird als Retter dargestellt. Die Inschrift auf dem Sockel der Statue besteht neben Namen, Geburts- und Todesdatum António Vieiras aus folgenden Worten: „Jesuit, Prediger, Priester, Politiker, Diplomat, Verteidiger der Indianer und Menschenrechte, Kämpfer gegen die Inquisition“ (Statues Vanderkrogt, Padre António Vieira, 2017). Die vom Künstler Marco Fidalgo gewählten Formulierungen zeichnen bereits ein klares und sehr positives Bild der Figur.

Intervention 2017

Nachdem die Statue 2017 errichtet wurde, zeigte sich, dass nicht alle mit dieser einseitigen Darstellung einverstanden sind. Die Gruppe „Descolonizando“ rief zu einer Gedenkveranstaltung am 05. Oktober 2017 auf. Sie bezeichnen sich selbst als „überparteiliche Gruppe aus mehreren Forscher:innen, Lehrer:innen und Künstler:innen verschiedener Nationalitäten“ und „dekolonisierendes Kollektiv“. Viel mehr als diese Eigenbezeichnung ist über die Gruppe nicht zu erfahren (Descolonizando, Facebook, 13.10.2017). Die Gruppe plante an der Statue Blumen niederzulegen, Kerzen anzuzünden und mit dem Rezitieren von Texten und Gedichten den Opfern von Sklaverei und Kolonialismus zu gedenken (Descolonizando, Facebook, 28.09.2017).
Als die 15 Demonstrierenden an dem Platz der Statue ankamen, fanden sie dort bereits eine größere Ansammlung von Mitgliedern der ultrarechten Gruppierung „Portugueses Primeiro“ vor, die im Voraus von der geplanten Veranstaltung erfahren hatten und zu einer Gegenveranstaltung mobilisierten. Sie hielten die Teilnehmer:innen der Aktion „Descolonizandos“ davon ab, zur Statue zu gelangen, sie schwenkten portugiesische und der eigenen Gruppe zugeordneten Flaggen und „verteidigten“ laut eigener Aussage die Statue vor „Descolonizando“, deren Ziel eine „Geschichtsverdrehung“ sei (Diarios de Noticias, Extrema-direita impede manifestação contra estátua do padre António Vieira em Lisboa, 06.10.2017). Mamadou Ba, ein Teilnehmer der Gedenkveranstaltung äußerte sich zum Verhalten der rechten Gruppe wie folgt: „Es gab keine Konfrontation, weil das keine Absicht von uns war. Wir haben alles getan, um zu verhindern, was die Absicht der Skinheads war: eine Konfrontation zu provozieren, um die Demonstration zu verhindern, aber vor allem, um eine politische Position zu manifestieren.“ (frei übersetzt aus: Diarios de Noticias, Extrema-direita impede manifestação contra estátua do padre António Vieira em Lisboa, 06.10.201). Trotz der zuvor erfolgten Anmeldung und Genehmigung der Intervention „Descolonizandos“ griff die Polizei laut Aussage der beiden aufeinandergetroffenen Gruppen nicht in die Situation ein (Descolonizando, Facebook, 13.10.2017; Jovens Portugueses Primeiro, Facebook, 05.10.2017).

Kritik der Gruppe

Eine Woche später reagierte die Gruppe „Descolonizando“ auf den Vorfall. Auf ihrem Facebook-Profil veröffentlichten sie ein Statement mit zehn Punkten, in dem sie sich erklärten (Descolonizando, Facebook, 13.10.2017). Sie gehen darin auf den Vorfall am 5. Oktober ein und übernehmen die Verantwortung für die Planung der Veranstaltung, distanzieren sich allerdings von jeglicher angeblich geplanten Gewalt gegen die Statue. Sie hätten nie die Absicht der Zerstörung der Plastik gehabt, weshalb ein „Schützen“ durch die rechte Gruppierung sinnlos gewesen sei.
Vielmehr als gegen die Statue richtet sich die Kritik der „Descolonizandos“ gegen die Darstellung des Padre Antonio Vieira in der Öffentlichkeit. Die Gruppe bezeichnet diese als „ästhetisch fragwürdig“ und dem Erbe Vieiras nicht gerecht werdend.
An dieser Stelle folgt ein kurzer Exkurs zu dessen Wirken. António Vieira, der bereits früh in seinem Leben nach Brasilien kam, wurde dort in einem Jesuitenkolleg ausgebildet und nahm dann 1635 die Missionierungsarbeit bei Stämmen der indigenen Bevölkerung im Amazonasgebiet auf. Später arbeitete er im Dienst des portugiesischen Königs Johann IV. in Europa als Diplomat und setzte sich unter anderem für die Gründung der „Allgemeinen Gesellschaft des Brasilienhandels“ ein, deren Hauptaufgabe es war, den portugiesischen Handelskonvoi zu sichern. Dieser beinhaltete zum einen die Überbringung von Sklaven aus Angola nach Brasilien, um sie dort auf den Zuckerplantagen arbeiten zu lassen und zum anderen die Überlieferung von brasilianischem Zucker über den Schiffsweg nach Portugal. Dieser war zu der Zeit um 1650 das wichtigste Mittel der Gewinnschöpfung aus den Kolonialgebieten für Portugal (Nautical Archaeology Program, Texas A&M University, A perda do galeão São Pantaleão (1651), 2003). Als Vieira später wieder nach Brasilien kam, um dort die Missionierung weiterzuführen, geriet er in Konflikt mit der Kolonialverwaltung, die auch die indigene Bevölkerung zunehmend versklaven wollte. Vieira, bzw. der Jesuitenorden, erlangte auf eine Bitte beim portugiesischen König daraufhin die Hoheit über ein von ca. 200.000 Menschen bewohntes Gebiet im Nordosten Brasiliens. Dort konnte über Vieiras Tod 1697 hinaus die Missionsarbeit weitergeführt werden. Vieira wird heute als einer der größten Literaten des portugiesischsprachigen Raums angesehen und das im Estado Novo konstruierte Bild des „guten Kolonisators“, der die Menschenrechte verteidigte und gegen die Sklaverei kämpfte, wird bis heute reproduziert (Britannica, António Vieira, 2021).
Genau an diesem Punkt setzt auch „Descolonizando“ die Kritik an. Sie sprechen sich gegen eine lusotropische Geschichtsauffassung aus, also eine mysthifiziert, konstruierte Verbindung zwischen den portugiesischsprachigen Ländern (bpb, Die Gemeinschaft Portugiesisch-sprachiger Staaten und die EU, 26.05.2002), die den portugiesischen Kolonialismus als wohlwollendes Projekt präsentiert. Mit dieser Auffassung geht laut „Descolonizando“ die Komplexität der Figur Vieiras unter. Der Priester sprach sich nicht generell gegen Sklavenhandel aus, er befürwortete die Versklavung von Menschen aus afrikanischen Kolonien und ging lediglich gegen die Versklavung der indigenen Bevölkerung in Brasilien vor, da diese nicht mit der Missionsarbeit vereinbar war. Die idealisierte Darstellung der Statue blendet also historische, koloniale Hinterlassenschaften aus und stellt sie nicht in den öffentlichen Diskurs.
Deshalb fordert die Gruppe eine kritische Auseinandersetzung mit der Person und dem Wirken Vieiras im Bildungssystem Portugals. Eine Auseinandersetzung, in der auch die massive Versklavung von Menschen aus Afrika, die von dem Priester als Lösung für das Kolonialsystem in Brasilien befürwortet wurde, aufgearbeitet wird.
Auch das Handeln des Jesuitenordens und der katholischen Kirche müssen aufgearbeitet werden, so die Gruppe in ihrem Statement. Die Missionierung, die auch unter Vieira durchgeführt wurde, beinhaltete die Enteignung der Indigenen, Zwangsumsiedlungen in christliche Siedlungen und damit einhergehend eine Christianisierung und „kulturelle Erziehung“ (Kulturas, Kulturvermittlung in Schwarz: Padre António Vieira, April 2003). Dieser sogenannten Erziehung lag das Motiv zugrunde, das Stuart Hall als „Binäre Spaltung“ bezeichnet. Durch die Aufteilung in die eigene hochentwickelte Kultur und die primitive Kultur der Anderen, findet ein „Othering“ (Diversity Arts Culture Berlin, Wörterbuch – Othering), also eine symbolische Ausschließung des „Fremden“, statt. Diese Identifikation einer Gruppe über die konstruierten, gegenteiligen Werte einer weiteren Gruppe stellt laut Hall einen Grundsatz des Rassismus dar (Hall, Stuart, 2000, S.13-15).
Zudem nimmt Vieira in der Darstellung die Position des „White Saviors“ ein, der von der Überlegenheit seiner eigenen Bildung und Weltanschauung überzeugt ist und die indigene Bevölkerung aus ihrer „Unwissenheit“ erlöst (Brückenwind Bildungsarbeit, White Savior Complex, 09.09.2020). Diese Reproduktion von kritischen Perspektiven wollen die Mitglieder von „Descolonizando“ stoppen. Sie weisen darauf hin, dass das Bild des „guten Kolonisators“ Portugals aus dem „Estado Novo“ stammt und Vieira diesem Bild nicht entspricht. Sie kritisieren auch, dass durch die späte Errichtung der Statue im Jahr 2017 keine Einordnung dieser in den historischen Kontext mehr möglich ist, sei es der Estado Novo oder die Lebenszeit des Jesuiten. Damit entzieht sich die Darstellung einer Aufarbeitung und Kontextualisierung, was sich aus Sicht der Gruppe ändern sollte. Sie räumen zwar ein, dass es jedem Land freistehe, auf die eigene Kultur stolz zu sein, fordern allerdings ein Lernen aus der Geschichte, statt einer immer fortlaufenden, nicht hinterfragten Reproduktion von Narrativen. Ihr Fokus liegt also im Speziellen weder auf der Statue des Padre António Vieira noch auf Statuen generell, sondern vielmehr darin, die eigene Geschichte Portugals kritisch zu betrachten und neue Perspektiven zu eröffnen, durch die Geschichtsschreibung passiert. Sie fordern eine Dekolonisierung.
Nach dem öffentlichen Statement zu den Geschehnissen verschwindet die Gruppe von der Bildfläche, der Facebookaccount „Descolonizando“ hat seitdem keine neueren Aktivitäten.
Trotzdem war das nicht die einzige Intervention in Bezug auf die Statue von António Vieira.

Intervention 2020

Als die globalen Black Lives Matter-Proteste 2020 auch Portugal erreichten, geriet die Statue des Padre António Vieira erneut in den Fokus der öffentlichen Wahrnehmung. Am 10.06.2020 wurde von einem:einer unbekannten Nutzer:in auf Twitter ein später wieder gelöschter Aufruf zur Zerstörung der Statue gepostet, da diese „eine Ode an den Kolonialismus“ darstelle (ZAP.aeiou, Investigado tweet que fala em destruir estátua do Padre António Vieira (Mamadou Ba nega autoria moral das pinturas), 13.06.2020).
Am darauffolgenden Tag, dem 11.06., bemalten Unbekannte die Statue mit roter Farbe und schrieben das Wort „Descoloniza“ (dt.: Dekolonisieren) auf den Sockel. Gesicht und Körper von Vieira wurden rot eingefärbt, den indigenen Kindern Herzen aufgemalt und die Inschrift auf dem Sockel unkenntlich gemacht (Expresso, Padre António Vieira. Investigado tweet que incentivou a destruição de estátua, 12.06.2021). Auch ohne ein Bekennerschreiben oder Wissen über die Urheber:innenschaft, legt die Art der Darstellung die Vermutung nahe, dass die Aktivist:innen wie auch bei dem Tweet Kritik an der kolonialen Symbolkraft der Statue übten.
Über den Vorfall berichteten einige portugiesische Zeitungen, verschiedene Politiker:innen positionierten sich dazu und in den sozialen Netzwerken wie Twitter partizipierten auch Teile der Zivilgesellschaft am Diskurs.

Politische Reaktion

Antirassismus ist nach Stuart Hall nie per se gegeben, sondern muss immer erst aktiv politisch hergestellt werden. Eine Gesellschaft ohne antirassistische Politik sei daher zwangsläufig eine rassistische Gesellschaft (Hall, 2000, 9). Vor diesem Hintergrund gelten die folgen-den politischen Reaktionen dann als antirassistisch, wenn sie den Status quo aktiv herausfordern und sich für eine dekoloniale Aufarbeitung stark machen.
Als direkte Reaktion auf die Intervention wurden von behördlicher Seite aus zunächst Untersuchungen zum Zusammenhang des Tweets mit der Bemalung der Statue und eine Fahndung nach den Urheber:innen aufgenommen (ZAP.aeiou, Investigado tweet que fala em destruir estátua do Padre António Vieira (Mamadou Ba nega autoria moral das pinturas), 13.06.2020). Die Stadt Lissabon entfernte die rote Farbe bereits am 12.06.2020, postete Bilder von der Reinigung auf Twitter und schrieb dazu, dass alle Akte von Vandalismus gegen das kollektive Erbe der Stadt unzulässig seien (Lisboa, Twitter, 12.06.2021).
Die Bezeichnung der aktivistischen Intervention als „Vandalismus“ wurde vielfach von Medien, Politiker:innen und Bürger:innen übernommen. So auch vom portugiesischen Staatspräsident Marcelo Rebelo de Sousa in einer Presseerklärung, in der er die Aktion mit dem Akt der Bücherverbrennung verglich, António Vieira als „Visionär“ und einen der „größten portugiesischen Schriftsteller“ hervorhob und eine „grundlose Radikalisierung“ der Gesellschaft anmahnte. Zwar gäbe es auch in Portugal Rassismus, aber man müsse die Statue als Zeugnis der Geschichte annehmen, nicht zerstören (Publico, Marcelo: é “verdadeiramente imbecil” vandalização de estátua do padre António Vieira, 15.06.2020).
Die Aufgabe eines überparteilichen Repräsentanten des Staates wie Marcelo Rebelo de Sousa ist es, die gesamte Gesellschaft über Grenzen und Differenzen sozialer Gruppen hinweg anzusprechen. Eine Analyse der Presseerklärung aus rassismuskritischer Perspektive nach Stuart Hall zeigt jedoch, dass der Staatspräsident eine bereits von „Descolonizando“ 2017 kritisierte, einseitige historische Sichtweise reproduziert hat, während andere Perspektiven ausgeschlossen wurden. Nach Hall entstehen Ausschließungspraxen in Diskursen dann, „wenn die Produktion von Bedeutungen mit Machtstrategien verknüpft sind und diese dazu dienen, bestimmte Gruppen vom Zugang zu kulturellen und symbolischen Ressourcen auszuschließen“ (Hall, 2000, 7). Durch das Framing der Intervention als Zensur, radikal und zerstörerisch findet ein Prozess der Versicherheitlichung statt, indem die Aktion als Gefährdung der öffentlichen Ordnung dargestellt und ihr somit jegliche Legitimität abgesprochen wird. Gleichzeitig wird das Bild Vieiras als nationale Heldenfigur reproduziert. Eine Debatte über die Bedeutung der Bemalung, Kritik an der Statue oder eine selbstkritische Reflexion über den Stand der Aufarbeitung der kolonialen Vergangenheit finden vor diesem Hintergrund weiterhin keinen Platz im Diskurs.
Argumentativ sind die Reaktionen innerhalb des rechten politischen Spektrums ähnlich ausgefallen. Francisco Rodrigues dos Santos, Präsident der rechtskonservativen Partei CDS, und André Ventura, Gründer der jungen rechtsextremen Partei Chega, äußerten sich unmittelbar nach dem Bekanntwerden der aktivistischen Intervention. Sie verurteilten den „Vandalismus“ und stellten die Aktion als „Angriff auf die nationale Kultur“ dar (André Ventura, Twitter, 11.06.2020; Expresso, Estátua do Padre António Vieira. Líder do CDS compara vandalismo com atos do Estado Islâmico, 11.06.2020). Der CDS-Präsident zog sogar einen Vergleich hinsichtlich der Zerstörung des Museums in Mosul und Palmira durch den sogenannten Islamischen Staat.
Die Person António Vieira wird damit als Sinnbild der Kultur und Geschichte gedeutet und die Bemalung der Statue zu einem terroristischen Angriff auf die portugiesische Nation erklärt. Wie auch bei der rechten Gruppe „Portugueses Primeiro“ 2017 lassen sich Schutz- und Verteidigungsmotive im Zusammenhang mit einem konstruierten Bedrohungsszenario erkennen. Nach Stuart Hall dreht sich die Politik des Rassismus und des Antirassismus um die Produktion und Reproduktion der gesellschaftlichen Identität (Hall, 2000, 16). In ihren Statements reproduzieren die Vertreter von CDS und Chega das Bild einer homogenen nationalen Gemeinschaft, die in der weißen, christlichen Figur des Padre António Vieira ihren Ausdruck findet – und die sich gegen ihre vermeintlichen Gegner:innen zur Wehr setzen muss. Ohne, dass explizit von einem „wir“ und einem „ihr“ die Rede ist, wird diskursiv deutlich, wer zur Gesellschaft dazugehört und wer nicht.
Die kommunistische Partei PCP veröffentlichte ebenfalls ein Statement zur Intervention auf ihrer Website, in dem sie sich gegen den „Vandalismus“ positionierte. In ihrem Statement erhob sie den Vorwurf, die Aktion würde lediglich gesellschaftliche Konflikte fördern und betonte, dass soziale Gerechtigkeit den gemeinsamen Kampf aller Arbeiter erfordere (PCP, Sobre a vandalização do monumento ao Padre António Vieira, 12.06.2020). Die Universalisierung der Arbeiter:innenschaft und die Priorisierung der ökonomischen Befreiung stellt nach Hall jedoch einen blinden Fleck innerhalb der linken Bewegung dar, da Interessen auf Grundlage der Kategorien „Klasse“ und „race“ nicht deckungsgleich seien (Hall, 2000, 9). Indem die PCP in ihrem Beitrag partikulare Interessen, abseits einer vermeintlich einheitlichen Perspektive der Arbeiter:innenschaft, als spalterisch bezeichnet, stellt auch ihre Reaktion keine antirassistische und dekoloniale Positionierung dar.
Der Blick auf die unmittelbaren Reaktionen aus der Politik zeigt, dass keine:r der Politi-ker:innen oder Parteien Bereitschaft zur inhaltlichen Auseinandersetzung mit der aktivistischen Intervention signalisierte. Stattdessen wurde die Aktion als nicht hinnehmbarer „Vandalismus“ bezeichnet und zum Sicherheitsproblem erklärt. Der bereits 2017 zur Einweihung geführte Diskurs über die Bedeutung von Padre António Viera als positiv und identitätsstiftend für die portugiesische Gesellschaft wurde hiermit 2020 fortgesetzt, ohne dabei auf die Kritik an der Person und der Statue einzugehen und ohne dabei indigene Perspektiven mit einzubeziehen. Dass sich Kontinuitäten in den Argumentationsmustern zwischen 2017 und 2020 beobachten lassen, zeigt, dass der von „Descolonizando“ angestoßene Aufarbeitungsdiskurs öffentlich nicht vorangeschritten ist. Politisch wurde 2020 keine antirassistische Handlungsweise eingefordert, sondern eine weiße, christliche, eurozentrische Sichtweise reproduziert.

Zivilgesellschaftliche Reaktionen auf Twitter

In Demokratien wird zivilgesellschaftlichen Akteur:innen in öffentlichen Diskursen eine wichtige normative Rolle zugeschrieben (Ferree et al., 2002). Seit einigen Jahren hat sich das soziale Netzwerk Twitter als virtueller Austauschplatz politischer Meinungen etabliert. Jedoch wird aber auch immer wieder Kritik am Fragmentierungspotential in Teilöffentlichkeiten geübt, da Nutzer:innen vor allem Meldungen von Personen oder Organisationen rezipieren, denen sie folgen (Pariser, 2011; Taddicken/Schmidt, 2017, 12). Dennoch verschafft die Plattform Twitter einen ungefähren Eindruck davon, wie Ereignisse gesellschaftlich debattiert werden.
Die Meldung über die aktivistische Intervention 2020 hat sich online vor allem über Zeitungsmeldungen verbreitet. Für ein Stimmungsbild der zivilgesellschaftlichen Reaktionen auf Twitter bot es sich daher an, die Antworten unter den Posts der größeren portugiesischen Zeitungen, wie beispielsweise Publico und Expresso, auf argumentative Gemeinsamkeiten und Unterschiede hin zu analysieren und gegebenenfalls zu kategorisieren. Allgemein ist bei der Interpretation der Ergebnisse zu beachten, dass sich soziale Netzwerke wie Twitter durch eine kurze Aufmerksamkeitsspanne für ein Thema auszeichnen, die die Reaktionen in der Regel auf einen Zeitraum von wenigen Stunden bis Tagen eingrenzt (Schmidt/Taddicken, 2017, 35).
In Bezug auf die aktivistische Intervention 2020 lassen sich die analysierten Tweets in vier Kategorien einteilen. Erstens setzten sich einige wenige Nutzer:innen reflektiert mit der Aktion auseinander, indem zum Beispiel zwischen der Person Vieira und der Statue differenziert und die koloniale Darstellung Letzterer kritisiert wurde. Zweitens wurde die Person Vieira in vielen der Tweets verteidigt und als Fürsprecher der indigenen Bevölkerung gelobt. Drittens lassen sich einige Beiträge argumentativ dem Credo „All Lives Matter“ zuordnen, unter dem Vandalismus allgemein verurteilt, die politische Linke und Rechte gleichgesetzt, sowie die Menschheit als universale Gemeinschaft mit gleichen Rechten und Interessen dargestellt wird. Viertens ließen sich auch offen nationalistische und rassistische Reaktionen erkennen, die die Intervention als Angriff auf die Identität Portugals werteten.
Während die Reaktionen der ersten Kategorie sich inhaltlich bei der Positionierung der aktivistischen Gruppe „Descolonizando“ 2017 verorten lassen, gleichen die Tweets der letzten drei Kategorien den politischen Reaktionen auf die Intervention 2020. Quantitativ dominieren Beiträge, die die positive historische Bedeutung von Padre António Vieira betonen (Kategorie zwei) und Beiträge, die die aktivistische Intervention als „Vandalismus“ verurteilen (Kategorie drei). Insgesamt gelten die ausgewerteten Reaktionen auf Twitter daher weniger als Korrektiv der politischen Akteur:innen, sondern eher als diskursiver Anknüpfungspunkt und Verteidigung des Status quo. Dekoloniale, antirassistische und indigene Stimmen lassen sich in den untersuchten Tweets dagegen kaum finden.

Fazit

Die Statue von Padre António Vieira, die aktivistischen Interventionen 2017 und 2020 sowie die politischen und gesellschaftlichen Reaktionen darauf können als Indikatoren für den aktuellen Stand der Aufarbeitung Portugals der eigenen kolonialen Geschichte gelten. Bereits zur Einweihung 2017 kritisierte die aktivistische Gruppe „Descolonizando“ die Fortsetzung kolonialer Narrative, indem symbolisch ein weißer, aktiver Beschützer vermeintlich hilflosen, passiven und indigenen Kindern gegenübergestellt wird. Anhand der Intervention im Kontext der Black Lives Matter-Proteste 2020 und der Reaktionen darauf wird deutlich, dass sich der Hauptkonflikt weiterhin um die Fragen kreist, wessen Geschichte erzählt wird, welche Erinnerungen symbolisch im öffentlichen Raum stattfinden dürfen und welche nicht. Dominante Stimmen aus Politik und Gesellschaft versuchen dabei weiterhin, eine weiße, christliche, eurozentrische Perspektive in der Geschichtserzählung und der nationalen Identitätskonstruktion aufrechtzuerhalten. Andere Sichtweisen werden aus den Erinnerungsdiskursen ausgeschlossen oder weitgehend unsichtbar gemacht. Für die Veränderung des Status quo bleibt demnach die Notwendigkeit einer aktiv antirassistischen Politik und Zivilgesellschaft.

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